John Akomfrah erschafft nachdenkliche Videoarbeiten von eindringlicher audiovisueller Intensität. Die SCHIRN widmet seinen einflussreichen Filminstallationen vom 9. November 2023 bis zum 28. Januar 2024 eine erste umfassende Ausstellung in Deutschland.

Auf großformatigen Screens erzählt John Akomfrah von Umbrüchen der Vergangenheit und Krisen der Gegenwart. Dem in Deutschland bisher eher wenig bekannten, eindrucksvollen Werk des Künstlers widmet die SCHIRN vom 9. November 2023 bis zum 28. Januar 2024 erstmals eine umfassende Ausstellung mit einer Auswahl von drei bedeutenden, raumumspannenden Multi-Screen-Installationen aus den vergangenen Jahren: „The Unfinished Conversation“ (2012), „Vertigo Sea“ (2015) und die neue Arbeit „Becoming Wind“ (2023).

Häufig in Form von simultanen Erzählstrukturen und sehr spezifisch eingesetztem Sound, verwebt der Mitbegründer des einflussreichen Londoner Black Audio Film Collective (1982-1998) eigene filmische Aufnahmen mit Archivmaterial zu vielschichtigen, mitunter assoziativen Collagen. Akomfrahs immersive Installationen setzen sich kritisch mit kolonialen Vergangenheiten, globaler Migration oder der Klimakrise auseinander. In seiner Arbeitsweise beschäftigt sich der Künstler mit der Eindimensionalität geschichtlicher Darstellungen, indem er in seinen Erzählungen ein Gefüge aus mehreren Perspektiven entstehen lässt. Akomfrahs Werk bricht mit der Vorstellung von Linearität, mit der Illusion der einen Wahrheit.

John Akomfrah in seinem Studio in London, 2016 © Smoking Dogs Films; Courtesy Smoking Dogs Films and Lisson Gallery. Foto: Jack Hems

John Akomfrah möchte das nicht Gesehene, das nicht Erzählte, das nicht Gehörte hervorbringen. In poetischen und starken Bildern beschreiben seine Installationen die Dringlichkeit seiner Themen, und dies ohne zu moralisieren. 

Julia Grosse, Kuratorin der Ausstellung
The Unfinished Conversation

Die intensive Drei-Kanal-Installation „The Unfinished Conversation“ ist eine Hommage an den renommierten und einflussreichen britischen Kulturtheoretiker, Soziologen und Begründer der Cultural Studies Stuart Hall (1932-2014), mit dem Akomfrah lange bekannt war. Der Künstler beschreibt hier eine sensible, fast poetische Auseinandersetzung mit Halls Vermächtnis und befragt anhand von Halls eigenem Leben dessen Theorien und Vorstellungen von Identität, Immigration und Kolonialismus. Akomfrah verwebt meisterhaft unterschiedliches Material, das unter anderem dem umfangreichen Archiv des Kulturtheoretikers stammt, darunter seine Reden und Interviews sowie Fotografien, mit historischen Ereignissen. Es entsteht ein vielschichtiger Klang- und Erlebnisraum, der einen kritischen Blick auf die britische Gesellschaft wirft.

„The Unfinished Conversation“ beginnt mit bunten Landschaftsaufnahmen aus der Karibik, die Akomfrah mit Schwarz-Weiß-Szenen aus dem industrialisierten England kombiniert. Hall wurde 1932 auf Jamaika geboren und kam 1951 für das Studium der Literaturwissenschaft nach Oxford. In seiner Videoinstallation verbindet Akomfrah Halls theoretische Arbeit sowie sein Wirken in Rundfunk und Fernsehen in den 1950er- und 1960er-Jahren mit Aufnahmen politischer Ereignisse, die Großbritannien in dieser Zeit prägten. Unter anderem stellt er Bezüge zum ungeklärten Mord an dem antiguanischen Kelso Cochrane her, zur Kampagne für nukleare Abrüstung und zum Marsch von Aldermaston. Zudem gibt es literarische Referenzen, etwa zu William Blake, Charles Dickens und Virginia Woolf. Jazzmusik zieht sich als weiterer zentraler Aspekt durch den Film, sowohl im Sound als auch über Sequenzen von Musiker*innen und sich drehenden Schallplatten durch den Film. Die Installation verhandelt Halls Ansatz, dass Identität kein Wesen oder Sein ist, sondern ein ständiges, sich im Fluss befindendes „Werden", ein Produkt der Geschichte, von Erinnerungen und der Überschneidungen von Öffentlichem und Privatem. 

John Akomfrah, The Unfinished Conversation, 2012, Filmstill, © Smoking Dogs Films / Courtesy Smoking Dogs Films and Lisson Gallery
John Akomfrah, The Unfinished Conversation, 2012, Filmstill, © Smoking Dogs Films / Courtesy Smoking Dogs Films and Lisson Gallery
Vertigo Sea

„Vertigo Sea“ ist eine poetische, zwischen den Jahrhunderten springende filmische Meditation über die Beziehung der Menschen mit dem Meer. Auf drei großen Leinwänden verbindet Akomfrah selbst gefilmte Aufnahmen von den Färöer-Inseln, auf Skye und in Norwegen mit Archivmaterial, darunter atemberaubende Naturdokumentationen der BBC, und verwebt sie mit vorgetragenen Fragmenten aus den Büchern "Moby Dick" (1851) von Herman Melville und "Whale Nation" (1988) von Heathcote Williams.

Im Fokus stehen das Meer und mit ihm verbundene Ausbeutungsstrukturen sowie aktuelle ökologische Fragen. Schönheit und Schrecken laufen in dicht geschnittenen Bildern parallel. Der Künstler verknüpft exemplarisch die Walfangindustrie und die Verschleppung von Millionen Afrikaner*innen während des transatlantischen Menschenhandels. Akomfrah zeigt etwa eine Szene aus einem Spielfilm, die das real stattgefundene Massaker durch die Besatzung des britischen Schiffes Zong im Jahre 1781 an mehr als 130 versklavten Menschen beschreibt. Ebenso spielen die Tragödien von Geflüchteten eine Rolle, die gegenwärtig versuchen, das Meer zu überqueren. Immer wieder ist in der Videoinstallation auch eine Person in historischer Uniform zu sehen. Sie verkörpert den als Kind aus Nigeria entführten und versklavten Olaudah Equiano (1745-1797), der später als freier Mann zum wichtigen Kämpfer gegen den Menschenhandel wurde. Das Einflechten von Biografien wie dieser ist ein typischer Handgriff Akomfrahs, um den Fokus auf die übersehenen Aspekte der Geschichte(n) zu richten. Die Überschneidung von Genres, Epochen und Perspektiven ist auch in „Vertigo Sea“ ein erkennbares Stilmittel, mit dem der Künstler unvermutete Bezüge herstellt und die Vorstellung der linearen Erzählung durchbricht.

John Akomfrah, Vertigo Sea, 2015, Filmstill, © Smoking Dogs Films / Courtesy Smoking Dogs Films and Lisson Gallery
John Akomfrah, Vertigo Sea, 2015, Filmstill, © Smoking Dogs Films / Courtesy Smoking Dogs Films and Lisson Gallery
Becoming Wind

Auf fünf Leinwänden erschafft Akomfrah in seiner neuen Arbeit „Becoming Wind“ eine allegorische Darstellung vom Garten Eden – und seines Verschwindens. In elegischen Schwarz-Weiß-Szenen taucht die Installation in eine Vergangenheit ein, in der Tier- und Pflanzenarten noch in üppiger Vielfalt auf dem Planeten vorhanden waren und richtet den Blick ebenfalls auf das menschenzentrierte labile Ökosystem des Anthropozäns, auf die aktuelle Epoche des Klimawandels. Wiederholt erscheinen Sätze auf den Bildschirmen, von denen sich, etwa im Kontext der Klimakrise, viele Menschen angesprochen fühlen: „Wir müssen schnell sein“ (We need to be quick), oder „Es bewegt sich unter uns“ (It moves among us). Widerholt sind Kinder am Strand und im Spiel mit den Wellen zu sehen. Gleichzeitig begleitet das Video trans* Akteur*innen und Aktivist*innen in ihrem Alltag. Dabei geht es dem Künstler um eine spezifische Erfahrung, aus der sich etwas sehr Universelles ablesen lässt: das tiefe Bedürfnis, die eigene Identität frei zu entfalten. Die flexiblen Identitäten der Zukunft müssen sich nie dagewesenen Herausforderungen stellen. Hier erkennt Akomfrah Überschneidungen zu den sich dramatisch wandelnden ökologischen Räumen, und die künftige Anpassung an diese. „Wir müssten fast zu etwas Wind-artigem werden, um dorthin zu gelangen“, sagt der Künstler in Bezug auf die rasanten Veränderungen der Gegenwart.

John Akomfrah, Becoming Wind, 2023, Filmstill, © Smoking Dogs Films / Courtesy Smoking Dogs Films and Lisson Gallery
John Akomfrah, Becoming Wind, 2023 Filmstill, © Smoking Dogs Films / Courtesy Smoking Dogs Films and Lisson Gallery

JOHN AKOM­FRAH. A SPACE OF EMPA­THY

9. NOVEMBER 2023 – 28. JANUAR 2024

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