Gegen Elite, gegen Autorität: Mit seinem LIDL-Projekt ruft Jörg Immendorff zu politisierten Dada-Aktionen auf.
Jörg Immendorff bindet sich einen Holzklotz ans Bein, in Schwarz, Rot, Gold bemalt und mit "LIDL" beschriftet, und wandert mit diesem vor dem Bundestagsgebäude auf und ab. Es ist 1968 und Deutschland ist Immendorff ein wortwörtlicher Klotz am Bein.
LIDL, damit ist nicht der Lebensmitteldiscounter mit dem fröhlich-bunten Logo gemeint. LIDL, das ist Nonsens, Dada, Onomatopoesie. Es ist das Geräusch, das der Holzklotz macht, den Immendorff hinter sich herschleift. Oder das Geräusch einer Babyrassel. In jedem Fall ist es sinnbefreit, offen für Assoziationen und Spekulationen und somit die ideale Titulierung für die Aktionen, die Immendorff gemeinsam mit seiner Mitstreiterin, der Künstlerin Chris Reinecke, zwischen 1968 und 1969 abhält. Es geht den beiden um nicht viel mehr, als ein politisches Umdenken herbeizuführen und die Kunst aus ihren elitären Bewertungskategorien zu lösen. Aber auch nicht um viel weniger.
Nach der ersten Protestaktion (für die sich der Künstler, ganz nebenbei, vor dem Verfassungsschutz verantworten musste) mieten sich Immendorff und Reinecke in der Düsseldorfer Altstadt ein. Im LIDL-Raum bietet Chris Reinecke Häkelkurse für Männer an, es treffen sich Bürgerinitiativen und Studenten auf Wohnungssuche. Immendorff, der bis zu den LIDL-Aktionen vornehmlich malte, seine Bilder mit Appellen oder Wortschöpfungen versah und von Joseph Beuys die Überzeugung übernahm, Kunst könne bewusstseinserweiternd wirken, erkannte in der Idee des Kollektivs eine Möglichkeit, seinen sozialkritischen Botschaften einen unmittelbaren Ausdruck zu verleihen. In seiner Aktion "Reigen" von 1966 versammelt er Beuys und andere Vertraute wie Franz Erhard Walther, Sigmar Polke und Reinecke im Reigentanz um sich. Das Händehalten symbolisierte Immendorffs selbsterklärtes Ziel, "mit allen Interessierten zusammen zu arbeiten und gesellschaftlich wirksam zu werden", was er später auch in der LIDL-Akademie umzusetzen versuchte.
Im Winter 1968 gründet sich die LIDL-Akademie und tagt in Karlsruhe und Düsseldorf. In der Kunstakademie Düsseldorf, wo Reinecke und Immendorff studierten, hatten sich zuvor Professoren über ihren Kollegen Joseph Beuys beschwert. Angeblich nutze dieser die von ihm ins Leben gerufene Deutsche Studentenpartei, um den Lehrbetrieb zu korrumpieren. In der Tat hatten die Schüler begonnen, den Unterricht allein und für die Öffentlichkeit, unabhängig von Lehrplänen oder Professoren, abzuhalten. Immendorff reagierte sofort auf diesen kurzen Moment der Anarchie. Mit der LIDL-Akadmie hält er eigene Veranstaltungen ab und experimentiert mit alternativen Mitteln der Wissensvermittlung: An den Arbeitstischen der Studierenden bringt er Spiegel an, damit diese ihre eigenen Gewohnheiten selbst beobachten und auswerten können. In der Arbeitswoche der LIDL-Akademie im darauffolgenden Frühling soll die Akadmie in eine Herberge umfunktioniert werden. Auf den Fluren und in der Mensa soll getagt, gegessen und auf Luftmatratzen genächtigt werden. Schüler, Lehrer, Forscher und andere Interessierte werden eingeladen, über die Funktion von Kunstpädagogik und Lehrinstitution zu diskutieren. Nachdem die Polizei zweimal zur Räumung anrückt und Joseph Beuys persönlich im Eisbärenfell erscheint, veranlasst Direktor Eduard Trier die vorübergehende Schließung der Lehranstalt. Die Wochenzeitung "Die Zeit" kommentiert am 16. Mai 1969: "Die Lidl-Akademie jedoch kann ihre Arbeitswoche als erfolgreich beendet betrachten: Die verschiedenen Themen wurden durch konsequente Abschaffung derselben erledigt. Und weil alles so gut klappte, will Jörg Immendorff die Aktion verlängern. Leute, die mitspielen, gibt es, wie man sah, ja auf beiden Seiten genug."
Kassel, 1968: Zum vierten Mal findet die documenta statt. Unter der Leitung von Arnold Bode sollen in jenem Jahr vor allem Vertreter der jüngeren Avantgarde gezeigt werden. Zu dieser Riege zählte Jörg Immendorff anscheinend nicht. Zur Eröffnungsveranstaltung erscheint er trotzdem mit einer Variation seines "Ich-Stabs", dem "Eisbär-Stab" in der einen, einem Honigtopf in der anderen Hand, auf dem Rücken eine Kiste mit dem LIDL-Botschafter, einer Schildkröte. "Ich mache die documenta frei", verkündet der Künstler. Frei wovon eigentlich?
Nachdem Immendorff lange seinem Mentor und Propheten Joseph Beuys folgte und von dessen Berufung als ästhetischer Befreier Deutschlands überzeugt war, übernahm er mit den LIDL-Aktionen selbst die Rolle des politisch handelnden Propheten. Er wollte die Kunstinstitutionen von ihren autoritären Doktrinen befreien, das deutsche Kleinbürgertum wachrütteln und das hierarchische Denken aus der Kunstwelt verbannen. LIDL war also nicht mehr als der Versuch, Leben, Kunst und Politik nicht nur in der Theorie zusammenzubringen, sondern die sie trennenden Grenzen tatsächlich ins Wanken zu bringen. Aber eben auch nicht weniger.