John Cages „Untitled Event” gilt vielen als Geburtsstunde der Performance Art, doch was sie auszeichnete, ist nur anekdotenhaft bekannt. Im DOUBLE FEATURE imaginiert Johanna Billing das Event mit Schüler*innen neu – und nutzt dessen Ungewissheiten, um der Professionalisierung im Schulwesen etwas entgegenzusetzen.

Das Läuten einer Kirchenglocke ertönt, Vögel zwitschern munter vor sich hin. Die Kamera zeigt derweil statische Aufnahmen einer britischen Stadtlandschaft – historische Bauten vor blauem Himmel, ein Auto fährt vorbei, ein begrünter Innenhof ist zu sehen. Schilder verraten schließlich, wo genau man sich hier befindet: im 1532 Performing Arts Centre der Bristol Grammar School, einer Privatschule im südwestlichen England. Immer weiter dringt die schwedische Konzeptkünstlerin Johanna Billing mit ihrer Videoarbeit „Each Moment Presents What Happens“ (2022) in das rege werdende Treiben vor Ort ein. Ein Klavier wird in das Gebäude getragen, ein Dolly, mit dem sich ruckelfreie Kamerafahrten bewerkstelligen lassen, dreht in einem dunklen Studio seine Runden, während simultan verschiedene Blasinstrumente erklingen.

Eine Hommage an die Geburt der Performance Art

Mehrere Jahre hat Johanna Billing an der Verwirklichung des Projekts gearbeitet, dessen Aufnahmen dann in Zusammenarbeit mit Schüler*innen an einem einzigen Tag entstanden sind. Kommissioniert wurde das Werk von der Bristol Grammar School anlässlich der Eröffnungsfeier des 1532 Performing Arts Centre. An eine Leiter gelehnt trägt eine Schülerin frei sich in den Raum entfaltende Wort vor: „This is a talk about something and naturally also a talk about nothing. About how something and nothing are not opposed to each other but need each other to keep on going”. Der Text stammt vom amerikanischen Komponisten und Künstler John Cage, und die Worte eröffnen in „Each Moment Presents What Happens“ fortan einen Referenzrahmen für Billings Arbeit.

Porträt der Künstlerin Johanna Billing, Foto © Anna Drvnik

1952 hatte Cage am Black Mountain College, einem progressiven, interdisziplinären Lehrinstitut in North Carolina, das „Untitled Event” (auch bekannt als „Theatre Piece no.1“) veranstaltet, das vielen als Geburtsstunde der Performance Art gilt. Allein, was diese genau auszeichnete und wie sie vonstattenging, ist nurmehr anekdotenhaft überliefert: Gemeinsam mit Künstler*innen wie dem Maler Robert Rauschenberg, dem Tänzer und Choreografen Merce Cunningham und der Poetin M. C. Richards hatte Cage die Mensa vor Ort bespielt. Eine Dokumentation der Aufführung existiert nicht, und so speist sich jegliches Wissen über das „Untitled Event“ aus sich teils widersprechenden Aussagen jener, die daran teilgenommen haben. Unklar ist, wie lange die Performance eigentlich dauerte (Angaben variieren zwischen 45 Minuten und zwei Stunden), wann genau sie stattfand (offenbar irgendwann im August 1952), und was dort im Einzelnen überhaupt geschah – Cage selbst sagte später: „I don’t recall anything […] except the ritual with the coffee cup”.

Johanna Billing, Each Moment Presents What Happens, 2022, Filmstill, © Johanna Billing

Johanna Billing imaginiert in „Each Moment Presents What Happens” gemeinsam mit Schüler*innen jenes mythenreiche Event. Zentrale Elemente sind Textpassagen aus Cages Text „Lecture on Something“, die im dunklen Studio oder der Schulmensa vorgetragen werden, musikalische und tänzerische Improvisationen und ein sogenanntes präpariertes Piano. Bei der ebenfalls vom amerikanischen Komponisten eingeführten Technik wird der Resonanzkörper eines Konzertflügels mit Alltagsgegenständen bestückt, die dem Instrument neue Klänge entlocken. Radiergummis, Pinsel, Spielzeugautos, Kochlöffel oder Styroporplatten befestigen die Schüler*innen zwischen den Saiten des Pianos, das nun obertonreiche, perkussive Klänge von sich gibt. 

Zwischendurch zeigt Johanna Billing immer wieder alltägliche Szenen eines Schultags – Kinder auf dem Pausenhof oder beim Essen in der Mensa, Aufbauarbeiten, die Zubereitung des Essens in der Kantine. Die musikalischen und performativen Klänge vermischen sich derweil mit den Alltagsgeräuschen des Schulbetriebs und eröffnen eine ganz eigene Soundlandschaft. „When I came over there, I remember I had just read this study about how young people today fear actually failure more than the death of someone close”, erzählte die Künstlerin jüngst im Interview mit der Londoner Whitechapel Gallery.

Johanna Billing, Each Moment Presents What Happens, 2022, Filmstill, © Johanna Billing

Eine offene, spontane Form, eine tonal befreite Klanglandschaft, eine auf oralen Mythen basierte Performance – die gemeinsame Arbeit mit der Schülerschaft wird so auch ein Versuch, der immer weiter fortschreitenden Professionalisierung im schulischen Bereich etwas entgegenzusetzen und Improvisation wie auch Scheitern als kreative Triebfeder in Erinnerung zu rufen. Hierin lag dann auch die eigentliche Vorbereitung, wie Johanna Billing erklärt: eine Situation zu schaffen, auf die alle Beteiligten sich einlassen können, ohne bereits vorab den Ausgang zu kennen.

Johanna Billing, Each Moment Presents What Happens, 2022, Filmstill, © Johanna Billing

Als weiteren Film hat sich Johanna Billing „Ole dole doff“ (deutscher Titel „Raus bist du“) des schwedischen Regisseurs Jan Troell ausgesucht, der 1968 auf der Berlinale mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet wurde. Im grobkörnigen 16mm zeigt der Schwarzweißfilm den Alltag des Lehrers Sören Mårtensson (Per Oscarsson) an der Sorgenfriskolan, der „sorgenfreien Schule“, im schwedischen Malmö. Das Schulwesen befindet sich gerade, wie er an einem Elternabend den Anwesenden erklärt, an einem Scheideweg zwischen autoritärem Zwang und liberal-demokratischer Schulpädagogik.

Ein Lehrer am Rande des Nervenzusammenbruchs

Allein, dem Lehrer selbst geht jede Autorität ab, seine Schüler*innen suchen konfrontativ den Konflikt mit ihm, was Sören Albträume verschafft. Im Klassenraum ohrfeigt er einen Schüler und verabscheut sich anschließend selbst. Auch von seiner Ehefrau Gunvor (Kerstin Tidelius) isoliert er sich zunehmend. Auf der Arbeit findet er in der Kollegin Ann-Marie (Ann-Marie Gyllenspetz) eine Vertraute, der er beichtet, warum er es so viel schwerer habe als die anderen Lehrer*innen: stehe er doch, eigentlich, auf der Seite der Schüler*innen.

Filmplakat: Jan Troell, Ole dole doff, 1968, Image via listal.com

Der Film entstand nach dem Buch „Die Insel sinkt“ von Clas Engström, der wie Regisseur Jan Troell ebenfalls selbst Lehrer an der Malmöer Schule war, die hier auch als Drehort diente. Die halbdokumentarische Form wie auch das eindringliche Schauspiel Per Oscarssons verdichten den Film zu einem angespannten Psychogramm eines Mannes, der nahe dem Nervenzusammenbruch sich selbst zu verlieren droht. Als wandelnder Schatten seiner selbst, sucht der Lehrer nach Anerkennung gerade bei jenen, die er unterrichten soll, und verzweifelt an der radikalen Ablehnung der jungen Zöglinge, die in seiner Unsicherheit wiederum nur eine auszumerzende Lästigkeit erkennen. Eine Geschichte aus der pädagogischen Hölle, in der eine friedvolle Auflösung unerreichbar scheint.

Jan Troell, Ole dole doff, 1968, filmstill, Image via listal.com

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