Legende der Institutionskritik, Demokrat, Artist’s Artist: die SCHIRN präsentiert das wegweisende und aktuelle Werk von HANS HAACKE.
Der deutsch-amerikanische Künstler Hans Haacke (*1936) gilt als eine der einflussreichsten Figuren der Gegenwartskunst. Die SCHIRN beleuchtet vom 8. November 2024 bis zum 9. Februar 2025 in einer umfassenden Retrospektive das Gesamtwerk des Künstlers von 1959 bis in die Gegenwart.
Wie kein anderer seiner Generation hat Haacke die politische Kunst geprägt. Sein von Direktheit und theoretischer Klarheit gekennzeichnetes Werk ist zugleich poetisch, metaphorisch, ökologisch und in vielfacher Hinsicht äußerst zeitgenössisch. Mehrfach wurden seine brisanten künstlerischen Beiträge zu aktuellen Debatten von Ausstellungen ausgeschlossen. Künstlerisch verfolgte er verschiedene Strategien, arbeitete schon früh in den Bereichen Ökologie und Naturwissenschaften, griff u. a. Ansätze der Gruppe ZERO und der Minimal Art, der Konzeptkunst, der Kunst im öffentlichen Raum sowie der Plakatkunst auf. Als wesentlicher Wegbereiter der institutionskritischen Konzeptkunst untersuchte er in seinen Arbeiten Ordnungen oder Systeme und stellte diese vergleichend vor. Der Künstler selbst beschreibt die Welt als ein Supersystem mit zahllosen Untersystemen, von denen jedes mehr oder weniger durch die anderen beeinflusst wird. Systemisches Denken, Institutionskritik und Demokratie sind die großen Themen, die sich durch Haackes Werk ziehen.
Die SCHIRN präsentiert ikonische Frühwerke der 1960er-Jahre, bedeutende Realzeit-Systeme, Arbeiten, die die Mitwirkung des Publikums einfordern, sowie raumgreifende (geschichts-) politische Installationen. Mit rund 70 Gemälden, Fotografien, Objekten, Installationen, Aktionen, Plakaten und einem Film verdeutlicht die Ausstellung, wie Haacke zu einem der international bedeutendsten und für die jüngere Künstlergeneration prägenden politischen Künstler wurde.
„Gift Horse“ in der Rotunde
In ihrer öffentlich zugänglichen Rotunde zeigt die SCHIRN Hans Haackes ikonisches „Gift Horse“ (2014), das der Künstler im Rahmen der „Fourth Plinth Commission“, einer der weltweit renommiertesten Aufträge für Kunst im öffentlichen Raum, für den Trafalgar Square in London entwickelte. Als eine Art „Gegen-Denkmal“ zur imperialen Repräsentation von Macht durch die Statuen an diesem Platz zeigt Haackes 4,5 Meter hohe Bronzeskulptur ein Pferdeskelett, das sich an einer Studie aus George Stubbs’ „The Anatomy of the Horse“ orientiert. Auf einer Schleife am vorderen Oberschenkelknochen des Skeletts wird ortsspezifisch über eine elektronische Anzeige live der Ticker der Frankfurter Börse übertragen. Haackes „geschenkter Gaul“ kann als Kommentar auf eine seit Jahrhunderten von Klassengegensätzen bestimmte, dem Diktat der Märkte unterworfene Gesellschaft gelesen werden.
Zwischen Physik, Biologie und Ökologie
Der Rundgang der Ausstellung beginnt mit wichtigen physikalischen, biologischen und ökologischen Arbeiten ab den 1960er-Jahren. Haackes Frühwerk war geprägt von seiner Freundschaft mit Otto Piene und dem Kontakt zur ZERO-Gruppe in Düsseldorf. Er nahm in dieser Phase an zahlreichen wegweisenden Ausstellungen zu Kinetik, Op-Art, Konzeptkunst oder Land Art teil. Obwohl Haackes Werk mit vielen innovativen Bewegungen der 1960er-Jahre Berührungspunkte hatte, fühlte er sich keiner davon wirklich zugehörig. Er war nicht an bestimmten Materialien und Stilen, sondern an grundsätzlichen Zusammenhängen zwischen physikalischen, biologischen und gesellschaftlichen Systemen interessiert. Zu den frühesten in der SCHIRN gezeigten Arbeiten gehört das Gemälde „Ce n’est pas la voie lactée“ (Das ist nicht die Milchstraße,1960) sowie Haackes ab 1961 entstandene Reliefs mit Spiegelfolie. Letztere kennzeichnete bereits die Interaktion mit den Betrachtenden, die in der Folge immer wichtiger wurde. Auch Haackes erste fotografische Arbeit „Fotonotizen, documenta 2“ (1959) dokumentierte das Verhalten von Besucher*innen im Ausstellungsraum. Andere, zum Teil partizipativ angelegte Arbeiten führen physikalische Prozesse vor, etwa „Säule mit zwei unvermischbaren Flüssigkeiten“ (1965) oder „Große Wasserwaage“ (1964–1965).
Vom Objekt zum Prozess
Zu sehen ist zudem eine Reihe von Werken, in denen sich Haacke mit den verschiedenen Aggregatzuständen von Wasser beschäftigte. Ein „signature work“ des Künstlers ist der „Large Condensation Cube“ (1963–1967), ein Plexiglas-Kubus, in den eine kleine Menge Wasser eingeschlossen ist. Haacke nannte diese Kuben auch „Wetterkästen“, später verglich er das meteorologische Klima auch mit dem politischen „Klima“. Diese Verknüpfung von verschiedenen Systemen ist charakteristisch für seine Arbeitsweise. Auch zeichnet sich in seiner künstlerischen Praxis hier der Übergang vom Objekt (oder der Skulptur) zum Prozess ab. Weitere „Versuchsanordnungen“ im musealen Innenraum führen mittels Verdunstung, Kondensation, Kristallisation, Verflüssigung den Wasserkreislauf („Circulation“, 1969) vor, andere Luftbewegungen („Blaues Segel“, 1964–1965) oder Wachstumsprozesse („Grass Grows“ / „Gras wächst“, 1969). Ab 1967 arbeitete Haacke auch im Außenraum, etwa mit „Sky Line“ (1967), sowie mit von ihm gesteuerten Prozessen mit Wasserdampf oder schmelzendem Schnee, und dokumentierte diese Arbeiten selbst fotografisch.
Ökologische Kunst
Immer wieder widmete er sich systemischen und ökologischen Fragestellungen. Als eines der ersten ökologischen Kunstwerke überhaupt gilt seine Fotografie „Monument to Beach Pollution“ (1970). Mit „Krefelder Abwasser-Triptychon“ (1972) und „Rheinwasseraufbereitungsanlage“ (1972) machte Haacke direkt und anklagend auf die Verschmutzung des Rheins aufmerksam. Charakteristisch sind auch seine „Realzeit-Systeme“ – in seiner Aktion „Chickens Hatching“ (Küken ausschlüpfend, 1969) ließ er in Realzeit Küken im Ausstellungsraum ausbrüten und führte Geburts- und Wachstumsprozesse in einer minimalistischen Kastenstruktur vor. „Ant Co-op“ (Ameisenkooperativ, 1969) dokumentiert die Regelmäßigkeit der von Ameisen gegrabenen Gänge und somit ein biologisches und soziales System. Der Künstler- und Dokumentarfilm „Hans Haacke. Selbstporträt eines deutschen Künstlers in New York“ (1969) gibt Einblicke in seine Arbeitsweise und zeigt zudem viele frühe prozessuale Arbeiten in Aktion.
Soziologisch-politische Arbeiten
Ein Schwerpunkt der Ausstellung ist den soziologisch-politischen Arbeiten gewidmet, die meist zu seinen charakteristischen Hauptwerken gezählt werden. Ab 1969 begann Haacke damit, gesellschaftliche Systeme zu analysieren und sichtbar zu machen, um im Kunstkontext gesellschaftspolitische Debatten anzustoßen. Bei dieser Form der Konzeptkunst geht es grundsätzlich um eine Analyse und Bewusstmachung der gesellschaftlichen, ökonomischen und institutionellen Rahmenbedingungen, unter denen Kunst produziert, ausgestellt, gehandelt und rezipiert wird. Zu einem kulturpolitischen Skandal und künstlerischen Protesten gegen Zensur führte 1971 „Shapolsky et al. Manhattan-Immobilienbesitz – Ein gesellschaftliches Realzeitsystem, Stand 1.5.1971“. Anhand von Fotografien, tabellarischen Übersichten und Plänen von 142 Grundstücken in den Stadtvierteln Lower East Side und Harlem in Manhattan legte Haacke hier die dubiose Immobilienkonzentration und -praxis der Shapolsky-Immobiliengruppe offen. Der Direktor des Guggenheim Museum Thomas Messer sagte Haackes Einzelausstellung aufgrund dieser Arbeit kurz vor Eröffnung ab.
Institutionskritik
Zu einer weiteren institutionellen Absage führte das „Manet-PROJEKT ’74“ (1974), das Haacke für die Jubiläumsausstellung des Wallraf-Richartz-Museums in Köln einreichte. Er schlug vor, das „Spargel-Stilleben“ (1880) von Édouard Manet aus der Sammlung des Museums zusammen mit den Ergebnissen einer Provenienzrecherche zu diesem Werk auszustellen. Die Informationstafeln beinhalten detaillierte, sowohl persönlich-biografische als auch beruflich-wirtschaftliche Angaben zu den Vorbesitzern sowie deren Verwicklung in den Nationalsozialismus. Die SCHIRN zeigt zwei weitere Arbeiten, die sich kritisch mit den Wechselbeziehungen von Kunstmäzenatentum und ökonomischer Aktivität auseinandersetzen: „Der Pralinenmeister“ (1981), eine Arbeit zu Verbindungen zwischen kultur- und steuerpolitischen Entscheidungen des einflussreichen Kölner Sammlers und Fabrikanten Peter Ludwig, und „Buhrlesque“ (1985) zum Schweizer Kunstsammler, Mäzen und Waffenproduzenten Dr. Dietrich Bührle.
Partizipation
Die Ausstellung präsentiert auch partizipative Arbeiten, wie die Installation „MoMA Poll“ (1970), mit der Haacke im New Yorker Museum of Modern Art die Besucher*innen nach ihrer politischen Überzeugung befragte. Eine aktuelle Publikumsbefragung wird auch während der Ausstellung in der SCHIRN durchgeführt. In „Photoelektrisches, vom Betrachter kontrolliertes Koordinatensystem“ (1968) bringt die Bewegung der Besucher*innen im Raum über fotoelektrische Sensoren und Infrarot-Projektoren 28 Glühbirnen zum Leuchten.
Demokratie und Meinungsbildung
In zahlreichen Werken engagiert Haacke sich für demokratische Prozesse, Meinungsbildung sowie eine antifaschistische und pluralistische Haltung. Einige Arbeiten beschäftigen sich mit medialer Repräsentation: „News“ (1969) überträgt den Newsticker einer Nachrichtenagentur in den Ausstellungsraum, in der SCHIRN werden Meldungen ausgewählter Frankfurter Medien wie der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der Frankfurter Rundschau und von Hessenschau.de übermittelt. „Photo Opportunity (After the Storm / Walker Evans)“ (1992) befasst sich vergleichend mit Bildberichterstattung. Die SCHIRN zeigt auch Haackes machtkritische Arbeit für die documenta 7: Die Installation „Ölgemälde, Hommage à Marcel Broodthaers“ (1982) besteht aus einem von ihm selbst angefertigten Porträt des damaligen US-Präsidenten Ronald Reagan, das gegenüber einer großformatigen Fotografie einer Großdemonstration der Gegner*innen von dessen Politik und der Stationierung von Atomwaffen gezeigt wird.
Die deutsche Vergangenheit und Gegenwart
Auch Haackes langjährige Auseinandersetzung mit Geschichtspolitiken und dem Nachwirken des Nationalsozialismus sind Teil der Ausstellung. 1993 bespielte er den deutschen Pavillon auf der Biennale in Venedig, wofür er zusammen mit Nam June Paik mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet wurde. Sein aufsehenerregender Beitrag „GERMANIA“ zeigte im Inneren des 1939 während des Nationalsozialismus umgestalteten Raums ein Trümmerfeld der Marmor-Bodenplatten. Die große Arbeit „DER BEVÖLKERUNG“ (2000) entwickelte Haacke als Dauerinstallation für einen der beiden Innenhöfe des Reichstagsgebäudes. Die Entscheidung für das Kunstwerk wurde von intensiven öffentlichen Debatten im Bundestag begleitet. Die auf dem Boden liegenden, leuchtenden Buchstaben beziehen sich dabei auf die Inschrift „DEM DEUTSCHEN VOLKE“ im Giebel des Gebäudes. Die Bundestagsabgeordneten waren eingeladen, jeweils 50 Kilogramm Erde aus ihrem Wahlkreis beizusteuern; aus den in die Erde eingebetteten Samen wuchs eine lebende Mischvegetation, die heute den Schriftzug rahmt. Haackes für die documenta 14 (2017) in Kassel und Athen entstandenes und seitdem vielfach gezeigtes Plakatprojekt „Wir (Alle) sind das Volk“ ist als Reaktion auf die Migrationsfeindlichkeit der letzten Dekaden zu lesen. Die textbasierte Plakatarbeit wiederholt den namensgebenden Slogan in den zwölf verschiedenen Sprachen der großen Migrant*innengruppen im jeweiligen Land.