Fasziniert von den Abgründen des Unbewussten wendet sich Alberto Giacometti in den 1930er-Jahren den Surrealisten zu. Doch seine Kunst lässt sich nicht lange in den Schranken des Surrealistischen Manifests halten.
Fällt der Name Alberto Giacometti, kommen den meisten direkt dessen lange, schlanke Bronzefiguren in den Sinn, die er nach dem zweiten Weltkrieg erschuf. Dass der Künstler zuvor Teil der surrealistischen Bewegung in Paris gewesen war, ist vielen unbekannt.
Als André Breton, Gründer des Surrealismus, 1930 in einer Ausstellung des Galeristen Pierre Loeb die Holz-Skulptur „Schwebende Kugel“ von Alberto Giacometti sieht, ist er gleich so fasziniert, dass er die Arbeit des noch unbekannten Künstlers erwirbt. Einige Tage später besucht er Giacometti in dessen Atelier, um ihn zu bitten, Teil seines Kreises aus Künstlern und Literaten zu werden. Giacometti willigt aus Neugier und entgegen aller Warnungen ein – viereinhalb Jahre wird er Teil der surrealistischen Bewegung sein.
Warnungen vor André Breton
Nachdem Giacometti 1922 nach Paris gegangen war, hatte er einige Jahre eher versteckt an seinen Skulpturen gearbeitet. Die Bekanntschaft mit Max Ernst, Joan Miró und weiteren bedeutenden Künstlern der damaligen Zeit, die Giacometti 1928 macht, bedeuten somit einen Wendepunkt in seinem Schaffen. Bei ihnen kommt er zum ersten Mal in Kontakt mit dem Surrealismus – jedoch häufig verbunden mit Warnungen vor André Breton und dessen striktem Einfluss auf die von ihm ins Leben gerufene Gruppierung.
1924 hatte Breton das „Manifest des Surrealismus“ verfasst und damit den Nerv der noch in den Nachwehen des ersten Weltkriegs taumelnden Künstlergeneration getroffen. Immer mehr Schriftsteller und bildende Künstler, darunter Louis Aragon, Paul Éluard und Benjamin Péret, schlossen sich seinem Kreis an und arbeiteten gemeinsam an der Verwirklichung ihrer kleinen Revolution: Man wollte „das Bewusstsein der Menschen für das ursprüngliche Staunen“ wieder erwecken, aber nicht nur auf literarischer und künstlerischer Ebene – sondern gleich in allen Bereichen des Lebens. Um diese Unmittelbarkeit der Wahrnehmung zu erreichen, setzten sie sich mit ihrem Unbewussten und ihren Träumen auseinander, die sie im Wachzustand in Malereien, Skulpturen und Texten umzusetzen versuchten.
Die Ablehnung der Bourgeoisie
Doch eine Strategie zum Antrieb der Revolution fehlte, gemeinsam war ihnen lediglich die Ablehnung von Bourgeoisie, Moral und Religion sowie die Faszination für das Unergründliche in der menschlichen Seele. Die Beschäftigung mit Gewalt, Grausamkeit, Sexualität und Ängsten – die u.a. in der hauseigenen Publikation „Le Surréalisme au service de la révolution“ zum Ausdruck gebracht wurde - bot ausreichend Inspiration für die Umsetzung in künstlerische Arbeit.
Auch Giacometti sah sich von der dunklen Seite des Menschen anzogen. Ihn faszinierten die Abgründe des Unbewussten, die im Surrealismus ungeschönt zum Vorschein kommen durften: Endlich konnte er sein Innerstes nach außen kehren! So spiegeln besonders die Skulpturen, die Giacometti in den Jahren 1930-35 schuf – und somit in seiner surrealistischen Phase – den psychischen Zustand des Künstlers so deutlich wie nie. Sie wirken traumhaft und halluzinatorisch, rätselhaft und metaphorisch bis hin zu schonungslos brutal. Seine Skulpturen dieser Zeit seien oft „unabhängig“ von ihm entstanden, sagte Giacometti später: Er habe sie bereits vollständig vor seinem inneren Auge gesehen und nur noch umsetzen müssen. Eine Beschreibung, die perfekt zu den Anliegen des Surrealismus passte – dass sich Giacometti für die Ausarbeitung seiner Skulpturen jedoch mehr als ausreichend Zeit ließ, widerspricht dem Ganzen allerdings wieder.
Ein Käfig im Mittelpunkt
Giacometti ist 1931 bereits voll integriertes Mitglied der Surrealisten, besucht die Versammlungen, schreibt Gedichte für die Publikation und organisiert Ausstellungen - entstehen zwei seiner für diese Phase wichtigsten Skulpturen: „Stachel ins Auge“ und „Der Käfig“. Bereits in den Jahren zuvor hatte Giacometti sich mit Liebe und den Schattenseiten von Liebesbeziehungen auseinandergesetzt, nun fügt er diesem Thema noch das Element des Käfigs und der damit einhergehenden latenten sexuellen Gewalt und Unterdrückung hinzu. Mit den Skulpturen „Stachel gegen das Auge“ und „Frau mit durchschnittener Kehle“ (1932) verarbeitet der Künstler alptraumhafte Visionen, die auch im Betrachter Beklemmung und ein unterschwelliges Gefühl der Aggressivität auslösen. In seiner Komposition „Der Palast um vier Uhr früh“ (1932), eine seiner rätselhaftesten Arbeiten, verarbeitet Giacometti eine intensive Liebesbeziehung – auch hier steht ein Käfig im Mittelpunkt. An Ideen und Eingebungen mangelt es dem Künstler nicht.
Doch 1934 sieht sich Giacometti mit einem schöpferischen Problem konfrontiert. Während der Arbeit an „Hände, die Leere haltend“, einem eineinhalb Meter hohen Versuch, einen ganzen Menschen darzustellen, fällt es ihm schwer, sich zu orientieren – und beginnt deshalb, wieder stärker nach der Natur zu modellieren, holt sich sogar eine Frau in sein Atelier, die im Modell sitzt. Auf echte Menschen als Vorbild hatte er sich schon ein Jahr zuvor bei den beiden Figuren „Schreitende Frau“ bezogen; aus Freundschaft zu Giacometti hatte Breton damals großzügig darüber hinweggesehen, obwohl es seiner Auffassung der Kunstproduktion komplett widerspricht. Doch nun trifft er bei den Surrealisten auf Ablehnung: Jeder wisse doch, wie ein Kopf aussieht, schimpft Breton. Als Giacometti dann auch noch eine große Auftragsarbeit annimmt, die ihn nach Meinung seiner Künstlerfreunde endgültig an die Bourgeoisie anbiedert, wird er 1934 aus der Gruppierung ausgeschlossen.
Giacometti verliert dadurch von jetzt auf gleich fast seinen kompletten Freundeskreis – und ist doch um etliche Erfahrungen reicher, die er in seine noch drei Jahrzehnte andauernde künstlerische Laufbahn einfließen lassen wird.