Joan Miró griff zum Stift und schrieb Gedichte. Über das Verhältnis eines großen Malers zu Literatur und Poesie.
Joan Miró ist ein beispielhafter multimedialer Künstler. Dabei leitet der Begriff „multimedial“ zunächst in die Irre. Wir denken an "multimedia", an "irgendwas mit den Medien", an etwas Technisches oder vielleicht an Soundinstallationen. Dabei heißt „multimedial“ ja nicht mehr, als mit verschiedenen Medien zu arbeiten und diese können ganz klassisch ausfallen: Musik, Literatur oder eben das Medium Wand.
Dass Miró für die Wand eine besondere Faszination empfunden hat, lernen wir in der aktuellen Ausstellung „Wandbilder, Weltenbilder“. Dass ihm als weitere Inspirationsquelle die Musik gedient hat, können wir im aktuellen Podcast im Schirn-Magazin hören. Noch mehr als die Musik aber hat Miró die Literatur geliebt. Während seines Lebens hat er unentwegt gelesen.
Mirós Auseinandersetzung mit Literatur
In seinem Atelier auf Mallorca lagen immer Bücher, jeden Morgen bevor er das Atelier betrat, las er zunächst Gedichte. Es gehörte zu seinem Ritual. Seine Auseinandersetzung mit Literatur, vor allem der dadaistischen, begann bereits in Barcelona. Dort begegnete Miró 1917 Marcel Duchamp und Francis Picabia. Nach seiner Ankunft in Paris 1920 bewegte er sich erneut in dadaistischen Kreisen, Picabia und Tristan Tzara waren ebenfalls dort.
Miró ist fasziniert von der sprachexperimentelle Kunstauffassung dieser Bewegung. Die Dichter zerlegen die Sprache in ihre kleinsten Elemente, berauben sie ihrer Semantik, setzen sie neu zusammen und erheben sie so zu einem bildlichen Sinnträger. Kurz, sie dekonstruierten die Sprache.
Er setzt sich mit "Buchstabenpoesie" auseinander
Wie auch aus der Wand oder der Musik, leitet Miró aus Literatur und Poesie neue Arbeitsweisen für sich ab, lässt sich zu Farben, Formen und Strukturen inspirieren. Er fängt an, einzelne Laute oder Wörter in seine Bilder zu schreiben. Zwischen 1924 und 1927 entstehen eine Reihe sogenannter "tableaux-poèmes", etwa "Étoiles en des sexes d’escargot" aus dem Jahr 1925, das auch in der Ausstellung zu sehen ist.
Nicht nur auf der Leinwand erkundet Miró das Verhältnis von Bild und Text. Er illustriert Gedichte von Henry Miller, Paul Éluard, Joan Brossa und Tzara oder gibt seinen Bildern poetische Namen. Er setzt sich mit der "Buchstabenpoesie" auseinander. Auf der Grundlage der optischen Darstellbarkeit von Buchstaben entwickelt er ein „Vokabular der Formen“, das er auf alle Techniken übertragen kann.
Buchstaben ohne Sprache
Er nennt diese seine Erfindung peinture poétique. Wie die Dadaisten kombiniert Miró Buchstaben in einer Weise, dass sie zu abstrakten Schriftzeichen werden. Mirós Buchstaben gehören nicht mehr der Welt der Sprache an, sondern der Welt von Fläche und Bild.
Was nach komplexer Theorie klingt, zielt auf Pragmatismus ab: Miró hat Interpretation und Theoretisierung immer ablehnend gegenüber gestanden. "Je hais tous les peintres qui veulent théoriser", schreibt der Maler 1918 an J.F. Ràfols. Sein Biograph Jacques Dupin schreibt 1961: "Lieber wollte er malen, als von Malerei sprechen, mit seinen Farben lieber das Imaginäre erforschen, als am Kaffeehaustisch über die Wege dahin spekulieren."
Gedichte versteht man auch nicht
Keine Interpretation, keine Theorie – und in seinen Bildern gibt es sowieso nichts zu verstehen. Miró selbst hat einmal erklärt, seine Bilder funktionierten wie Gedichte, diese verstehe man meistens auch nicht direkt. Es gehe vielmehr darum, was man fühlt, wenn man Gedichte liest. Oder eben ein Miró-Bild betrachtet.
Miró griff auch selbst zum Stift. Als 1936 der Spanische Bürgerkrieg ausbricht, hält sich Miró in Mont-roig in der spanischen Provinz auf. Er flieht nach Paris. Da er zunächst kein Atelier hat, fängt er an, zu schreiben. Jedoch nicht in seiner Muttersprache katalanisch, sondern in dem für ihn fremden Französisch. In den folgenden drei Jahren entsteht so ein poetisches Oeuvre, mitunter kalligraphische Gedichte, Prosagedichte in Form assoziativer Wortketten oder Versgedichte in rhythmischer Form:
Un oeillet rougeéclate sur le bout d'un parapluie porté par un merlan à queue de perroquet couché sur la neige rose.
Deux grandes dames monces habillées en noir, une longue plume de canari sur le chapeau, sortent du concert.
Eine rote Nelke blitzt am Ende eines Regenschirms, den ein im rosa Schnee schlafender Merlan mit Papageienschwanz trägt.
Zwei dünne große Damen schwarzgekleidet, mit einer langen Kanarienvogelfeder am Hut, kommen aus dem Konzert
Miró malt seine Gedichte regelrecht auf die Zeichenblöcke. Die Schrift hat etwas kalligrafisches, die Buchstaben schwingen durch das Bild, ziehen Linien und Arabesken, sie ähneln Figuren, erzeugen Bewegung – visuelle Poetik. Maler oder Dichter? Miró sah darin keinen Unterschied. Ein Selbstverständnis, das ihn mit dem Meister der visuellen Lyrik – Guillaume Apollinaire – verbindet. In Apollinaires Figurengedichten werden Schrift und Bild austauschbar: Schrift wird zur Malerei, Bilder zur Dichtung.
Miró und die Literatur, auch das wäre eine eigene Ausstellung wert. Aber was schreib‘ ich, gab es ja schon: Anfang 2015 im Bucerius Kunst Forum in Hamburg: "Miró. Malerei als Poesie". Wenn es mit einem Besuch im Nachhinein auch schwierig ist, der Katalog lohnt einen Blick!