Bei Else Lasker-Schüler scheinen eigenes Phantasie-Universum und nüchterne Realität weniger deutlich abgegrenzt als bei manch anderem Künstler ihrer Zeit. Versuch eines Porträts.
Über Else Lasker-Schüler, die berühmte Poetin und Künstlerin, Malerin und selbsternannten „Prinz von Theben“, gibt es viele Anekdoten zu berichten: Dass sie schon mit vier Jahren lesen und schreiben konnte, dass sie all ihren Liebhabern und Wegbegleitern phantastische Namen gab, dass sie zu ihrer Berliner Zeit Dauergast im „Café des Westens“ war und dass sie als Protagonistin in ihrem eigenen Orient-Kosmos gern in Pluderhosen Flöte spielte.
All das stimmt vermutlich oder sogar recht sicher, aber es macht die Annäherung nicht einfacher. Die schön schillernde Anekdote hat einen trügerischen Charakter, gaukelt Nähe und Erkenntnis vor, die sie nicht unbedingt einlösen kann. Viele zusammen ergeben bestenfalls ein Gerüst. Als Gesamterklärung taugt sie weniger. Hält man sich also zunächst an die blanken Fakten, dann ergibt sich in etwa diese Biografie: Else Schüler wird 1869 im heutigen Wuppertal als Tochter eines jüdischen Bankiers geboren. Sie war außerordentlich intelligent und begabt, brach die Schule auf eigenen Wunsch ab und wurde fortan zu Hause unterrichtet. 1894 heiratet sie Jonathan Berthold Lasker und zieht mit dem Arzt nach Berlin. Die Verbundenheit zur eigenen Familie muss stark gewesen sein: als wenige Jahre vor der Hochzeit ihre Mutter und einige Jahre danach ihr Vater sterben, kommt dies Lasker-Schüler als eine „Vertreibung aus dem Paradies“ gleich. Mit 30 Jahren veröffentlicht sie erste Gedichte, vier Jahre später heiratet sie ihren zweiten Ehemann Georg Lewin, dem sie einen neuen Namen verpasst: Herwarth Walden.
Ein phantastischer Kosmos: Theben in Berlin
In Berlin geht Else Lasker-Schüler gern ins „Café des Westens“, träumt sich in orientalische Märchenwelten und macht diese in Gedichten, später auch in kleinen Illustrationen erfahrbar, die nach und nach zu größeren Zeichnungen erweitert werden. Lasker-Schüler einzuordnen in eine einzige Bewegung, ihr Werk einer Schule zuzuschreiben, muss scheitern: Zwar hatte sie etliche gute Künstlerfreunde, mit denen sie einiges teilte, ihr eigener phantastischer Kosmos aber existierte scheinbar unabhängig von denen ihrer Außenwelt. Dazwischen lagen nicht weniger als Myriaden. „Nichts Rationales überhaupt verband sie mit ihrer Umwelt und insbesondere mit den Häuptern des dadaistischen Bildersturms; allein die totale Unbürgerlichkeit hatte sie mit jenen gemein, und auch die nicht als Ideologie, sondern als Naturtrieb, “ konstatierte Walter Abendroth hierzu 1966 in der „Zeit“. Und auch hieraus lässt sich natürlich etwas Anekdotisches stricken: Else Lasker-Schüler als Rebellin, als phantastische Poetin, als Außenseiterin, als Verweigerin von pragmatischer Kunst- und Kulturpolitik.
Zu ihren berühmtesten Gedichten gehört wohl „Ein alter Tibetteppich“, der erstmals in Waldens „Der Sturm“- Zeitschrift und später, nach begeisterter Aufnahme, nochmals in Karl Kraus „Die Fackel“ abgedruckt wird. Darin beschreibt Lasker-Schüler eine Liebesbeziehung, erzählt von Seelen, die miteinander „im Teppichtibet verwirkt“ sind, und himmelt den „Lamasohn auf Moschuspflanzenthron“ an.
Heute wahlweise bejubelt oder abgelehnt
Zeichnung und Malerei waren für Lasker-Schüler ursprünglich eher Beiwerk, Illustration für ihre Gedichte. Bald fand sie Gefallen daran, ihrem literarischen Kosmos auch zeichnerisch Ausdruck zu verleihen: Thebetanische Brautpaare, an der Hand einen Affen, bringt die Künstlerin zu Papier, auf einem anderen Bild reitet Prinz Jussuff auf einem Kamel durch die Wüste. Der Prinz sieht ihr mit dunklem Pagenschnitt und Pluderhosen nicht zufällig ähnlich, er ist Else Lasker-Schülers männliches Alter Ego und dabei in einer Doppelbedeutung trotzdem und zugleich auch Traumprinz.
Diese offen zur Schau gestellte Verweigerung einer Grenzziehung zwischen Privatem und künstlerischem Kosmos, zwischen phantastischer Sphäre und schnöder Realität wurde und wird Else Lasker-Schüler gern als Naivität ausgelegt und damals wie heute wahlweise bejubelt oder abgelehnt. Statt dies zu widerlegen, kann man die Künstlerin aber genau in dieser bewusst gewählten Tradition verstehen: Der Literaturwissenschaftler Magnus Klaue beispielsweise arbeitet Kitsch und Naives in „Poetischer Enthusiasmus: Else Lasker-Schülers Ästhetik der Kolportage“ ganz bewusst als Eigenschaften von Lasker-Schülers Gedichten heraus – und zeigt an Hand dieser Attribute auf, wie ernst man das radikal revolutionäre Gehalt ihres Werks nehmen sollte, das die Möglichkeiten der Kunst auslotet, wie es viele andere sich kaum zu wagen trauten.
Die realen Lebensumstände fallen hinter die poetischen ab
Dass das scheinbar Anekdotische ihrer Kunst tatsächlich nicht mit dem echten Leben verwechselt werden sollte oder vielmehr: dass die Kunst eben niemals in der schnöden Realität voll aufgehen kann, zeigt Else Lasker-Schülers Flucht ins Exil. 1927 stirbt ihr geliebter Sohn Paul, wenige Jahre später muss sie Berlin verlassen: 1933 emigriert die Künstlerin nach Zürich, nachdem sie im nationalsozialistischen Deutschland um ihr Leben fürchten muss. Von hier aus unternimmt sie Reisen nach Jerusalem, das in ihren Gedichten als magischer Ort jenseits dieser Welt erscheint. 1939, auf ihrer dritten Reise nach Palästina, kann sie nicht wieder in die Schweiz zurückkehren und bleibt. Noch immer schreibt und spricht sie in malerischen Bildern von ihrer (Zwangs-) Heimat, doch die realen Lebensumstände fallen hinter die poetischen ab.
Es bleibt: ein nicht einnehmbares Moment, viele Leerstellen. Der Leser muss sie selbst ausfüllen, möchte er sich auf die Spuren von Else Lasker-Schüler, Prinz von Theben und fantastische Erzählerin begeben. Gerade in dieser Möglichkeit einer subjektiven Eroberung liegt die große Faszination von Else Lasker-Schülers Gedichten und Zeichnungen, die sich als Gesamtkunstwerk verstehen lassen: Den Zuschauer, den Leser macht sie zum Mitwissenden, doch alles Wissen muss sich dieser selber aneignen. Wohin die Reise führt, ist ungewiss, und ganz sicherlich endet sie nicht im tatsächlichen Orient, der die phantastischen Vorstellungen der unfreiwilligen Exilantin aller heißen Liebe zum Trotz letztlich enttäuschen musste.