Einsamkeit, subjektives Empfinden, Sprachlosigkeit, Sehnsucht – diese für die Epoche der Romantik typischen Motive kann man in den filmisch sorgfältig inszenierten Bildern von Christin Berg finden. In „Beyond the Now" verbindet sie diese mit Impressionen unserer Gegenwart, deren aktueller Zustand große Verunsicherung hervorruft.

Geruhsam bewegt sich die Kamera im Morgengrauen aus der Vogelperspektive auf eine Baumkrone zu, die kaum noch Blätter trägt. Es erklingen Holzbläser, die pulsierende Staccato-Noten von sich geben, derweil die Kamera langsam den Erdboden erreicht und den Blick auf eine im Baum hängende Leinwand freigibt. Immer näher bewegen wir uns auf diese zu, die in schwarz-weißen Bildern Nahaufnahmen von menschlichen Körperpartien – eine Hand, ein Fuß, ein Hals samt Kette – wiedergibt, während die Holzbläser anschwellen und sich immer mehr zu einem oszillierenden Rhythmus verbinden. Die einsam im Baum hängende Leinwand scheint die Kamera anschließend zu verschlucken und an einen anderen Ort zu katapultieren. Wieder überfliegt die Kamera, dieses Mal bei Tageslicht, eine Waldlandschaft, die sich zwischen Bergen und Tälern entlangzieht. Doch die auf den ersten Blick unberührte Natur ist offenbar keine: irgendwo scheint ein Feuer zu brennen, auf das die Kamera sich langsam zu bewegt, und andernorts werden Bäume gefällt, während eine leichte Smogschicht das helle Sonnenlicht diffus bricht.

Christin Berg, Beyond the Now, 2022, videostill, Courtesy the artist

CHRISTIN BERG. INTERVIEW

Paradoxien von Mensch und Natur

Zwischen Vergangenheit und Gegenwart, Dystopie und Utopie

Im Folgenden führt Christin Bergs „Beyond The Now“ (2022) von dem Naturbild hinein in die menschliche Sphäre, genauer von der Landschaft rund um die italienische Gemeinde Olevano Romano an die Bar der Berliner Akademie der Künste. Haben sich Ende des 18. Jahrhundert Künstler der Romantik von der idyllischen Provinz in Italien inspirieren lassen, so könnte man die Berliner Akademie der Künste wohl als Lebenswelt beschreiben, die von vielen als diametral entgegengesetzt empfunden wird – wenngleich die Architektur selbst damals einen bewussten Einbezug der grünen Umgebung, wie des Berliner Tiergartens, verfolgte. Ins Blickfeld der Kamera gerät hier jetzt der menschliche Körper in seiner urbanen Umgebung: Ein Kind rennt durch das Zimmer, dann erhebt sich eine Frau, wie zum ersten Mal in ihrem Leben, vom Boden hinter der Bar. Zwei Frauen mit entblößtem Oberkörper ertasten sich gegenseitig behutsam. Eine vierte Frau schildert schließlich eine traumhafte Erzählung, deren Inhalt auf den Anfang von „Beyond The Now“ rekurriert. Einsamkeit, subjektives Empfinden, Sprachlosigkeit, Sehnsucht, eine poetische Annährung an die ­Welt – diese für die Epoche der Romantik typischen Motive kann man in den filmisch sorgfältig inszenierten Bildern von Christin Berg finden, die hier in eine Jetztzeit projiziert werden, deren aktueller Zustand allenthalben Verunsicherung hervorruft.

Christin Berg, Beyond the Now, 2022, videostill, Courtesy the artist
Christin Berg, Beyond the Now, 2022, videostill, Courtesy the artist

Auch andere Filmarbeiten Bergs bewegen sich im Spannungsfeld zwischen Vergangenheit und Gegenwart, Dystopie und  Utopie: die Drei-Kanal-Installation „Fire on Air“ (2021) stellt drei in sich geschlossene Narrationen über Frauen in kontrastierenden Landschaften in Island, Deutschland und Portugal gegenüber und entstand nach einer eingehenden Beschäftigung mit utopischer Literatur. Symbole der Vergangenheit, die im Verschwinden begriffen sind, tauchen in „From now on Silence“ (2020) in Form alter Architektur, die kurz vor dem Abriss steht, auf, während sich in „I Am Going“ (2021) rundum architektonische Wandlungen im urbanen Raum eine dystopische Narration entwickelt.

Ein Leben zwischen Glücksversprechen und Alltagstristesse

Als weiteren Film hat sich Christin Berg „Queen of Diamonds“ (1991) der amerikanischen Filmemacherin Nina Menkes ausgesucht. Der Film zeigt Szenen aus dem Leben von Firdaus, einer Black Jack-Dealerin in Las Vegas, die von Nina Menkes Schwester Tina gespielt wird. Wir sehen die Frau bei der Arbeit, bei der Pflege eines im Sterben liegenden alten Mannes und in weiteren Alltagszenen. Größtenteils mit statischer Kamera fängt der wortkarge Film in langen Sequenzen ein Leben zwischen Glücksversprechen und tristem Alltag ein.

Mittels einer expressiven Mise en Scène, in die Menkes immer wieder surrealistisch anmutende Momente einbettet, nimmt derweil das Gezeigte zunehmend bedrohliche Untertöne an: Minutenlang filmt die Kamera eine brennende Palme oder zeigt manisch schunkelnde Zirkuselefanten in unmittelbarer Nähe eines tödlichen Autounfalls. Der Gegensatz zwischen versprochenem Paradies und reeller Lebenswelt greift schon der ungewöhnliche Vorname der Protagonistin auf, so übersetzt sich der aus dem Arabisch stammende Vorname wörtlich als „höchste Stufe des Paradieses“, von der im Alltag der jungen Frau weit und breit nichts zu sehen ist. Der dystopische Einbruch in Nevadas Glücksoase inmitten der Wüste offenbart sich in „Queen of Diamonds“ fast ausschließlich durch die ausdrucksstarke Bildkomposition, die dem Gezeigten eine eigene Erzählung abringt und das Filmmaterial nicht lediglich zu einer simplen Bebilderung einer sprachlich eindeutigen Narration degradiert.

 

 

Nina Menkes, Queen of Diamonds, 1991, Filmstill, Image via potts.la

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