Marie Laurencin gehört zu den wenigen Frauen, die sich auf dem Montmartre als Malerinnen durchsetzen konnten. Ein Porträt.
Stimmgewirr, Klacken von Absätzen auf Pflastersteinen, weibliche Körper, begutachtende Blicke männlicher Maler: Immer montags bieten sich Mädchen und junge Frauen an der Place Pigalle im Pariser Viertel Montmartre als Modell an. Der Mann malt, die Frau ist Motiv – diese Rollenverteilung wird sich in der Kunst bis weit ins 20. Jahrhundert hinein halten. Frauen ist der Zugang zu den Akademien versagt, sie werden häufig in das in Künstlerkreisen belächelte Kunsthandwerk abgeschoben. Dennoch gibt es Malerinnen, auch in der Pariser Bohème um 1900. Suzanne Valadon, Sonia Delaunay und andere nehmen selbst den Pinsel in die Hand und besuchen freie Malereiklassen. Marie Laurencin wird zunächst als Porzellanmalerin ausgebildet. Dann wendet sie sich der Ölmalerei zu und begibt sich damit auf männliches Territorium.
Als „Frauenkunst“ werden die Werke der Künstlerinnen rezipiert. Der Dichter und Kunstkritiker Guillaume Apollinaire schreibt, was Frauen in die Kunst hineintrügen, seien keine technischen Neuheiten, sondern Geschmack, Instinkt und gleichsam eine neue und von lauter Freude erfüllte Vision des Universums. Damit bedient Apollinaire die Klischees seiner Zeit. Marie Laurencin geht für ein paar Jahre eine Liebesbeziehung mit Apollinaire ein, sie wird als dessen Muse identifiziert – eine klassische Rolle, die Frauen in Avantgarde-Kreisen übergestülpt wird.
Dabei lassen sich Laurencins frühe Gemälde kaum von denen ihrer männlichen Zeitgenossen unterscheiden. Neben Selbstporträts malt die 1883 geborene Künstlerin immer wieder Frauen, einzeln und in Gruppen. Sie wird von Bekannten in die Pariser Bohème-Szene eingeführt, lernt Maler wie Pablo Picasso, George Braque und Henri Matisse kennen, experimentiert stilistisch mit dem Kubismus und dem Fauvismus, zerlegt Motive in Flächen, spielt mit Perspektive und subjektiver Farbgebung. Frühe Zeichnungen zeugen von ihrem außergewöhnlichen Talent und einem visionären Blick.
Blasse Wesen mit melancholischen Augen
Ein Selbstporträt, das Laurencin 1906 in ein Heft gezeichnet hat, wirkt erstaunlich frisch und zeitlos. Ihr Kopf ist leicht zur Seite geneigt, nachdenklich und selbstbewusst blickt die junge Laurencin den Betrachter an. Ausschnitt sowie Licht- und Schattenspiele lassen an eine Fotografie oder ein Close-up denken, Laurencin nimmt die viel später aufkommende Ästhetik des Film Noir vorweg. Zwischen detailliert gezeichneten und wie beiläufig schraffierten Elementen entsteht eine spannungsvolle Dynamik. Bei einem anderen Selbstporträt aus dem gleichen Jahr setzt Laurencin Farben ein. Sie hebt die Konturen ihres Gesichts mit präzisen blauen Strichen hervor und betont Schatten und Flächen mit rotbraunen Einfärbungen. Wie eine moderne Mode-Illustration wirkt dieses Bild.
Ebenso exotisch wie eine Malerin ist in Paris um 1900 eine Kunsthändlerin. Doch es gibt sie: Berthe Weill. Als erste Pariser Galeristin nimmt sie Pablo Picasso in ihr Programm auf. Sie unterstützt die wenigen Künstlerinnen des Montmartre, 1908 stellt Laurencin bei ihr aus, ein Jahr zuvor hat die Künstlerin im Salon des Indépendants ihre Werke erstmals der Öffentlichkeit präsentiert. Eine weitere Frau lenkt die Geschicke vieler Künstler auf dem Montmartre: Die US-amerikanische Kunstsammlerin und Schriftstellerin Gertrude Stein. Sie erwirbt eine 1908 entstandene Fassung von Laurencins Gemälde „Apollinaire et ses amis“. Zu sehen sind darauf Apollinaire, Freunde wie Pablo Picasso und dessen Geliebte Fernande Olivier, auch Laurencin selbst. In der legendären „Armory Show“ von 1913, die ein erstauntes US-amerikanisches Publikum in die neuen experimentellen Strömungen der europäischen Avantgarde einführt, sind sieben Werke von Laurencin vertreten.
Bald findet Laurencin zu ihrem ganz eigenen Stil, der sich etwa in dem Gemälde „Portraits (Marie Laurencin, Cecilia de Madrazo et le chien Coco)“ aus dem Jahr 1915 manifestiert. Sie malt weiterhin vor allem weibliche Figuren, diese werden jetzt zu blassen Wesen mit dunklen melancholischen Augen. Blumen, Vögel, Hunde und Gitarren ergänzen die Motive. Die Konturen werden weich, pastellige Blau-, Rosa- und Grüntöne halten Einzug in eine mystische Welt. Auch Coco Chanel porträtiert Laurencin so, doch die Modeschöpferin lehnt das fertige Bild ab, in dieser Welt erkennt sie sich nicht wieder.
Im Laufe ihrer Karriere nimmt Laurencin verschiedene Auftragsarbeiten an, kreiert Kostüme und Bühnenbilder für Theater- und Tanzstücke, zum Beispiel für die Ballets Russe, und illustriert Bücher. Während des Ersten Weltkrieges lebt sie im spanischen Exil, später auch in Düsseldorf, während einer kurzen Ehe mit dem Deutschen Baron Otto von Waëtjen. Die meiste Zeit ihres Lebens verbringt sie in Paris, der Stadt bleibt sie bis zu ihrem Tod im Jahr 1956 treu. Die größte Sammlung ihrer Werke befindet sich aber in Japan, im „Musée Marie Laurencin“. Museumsdirektor Masahiro Takano eröffnete es 1983, seine Privatsammlung zählte damals 100 Arbeiten Laurencins, heute sind es über 500.