Welche Potentiale birgt der Müßiggang? Was passiert, wenn nichts passiert? Mit „Untitled (Nothing Happens)” (2023) präsentiert Alicja Wysocka im DOUBLE FEATURE eine Versuchsanordnung über Freizeit, Erwachsensein und Langeweile und untersucht die Gruppendynamik zwischen fünf Freundinnen im Ruhestand.
„Was die Leute nicht Alles aus Langeweile treiben! Sie studiren aus Langeweile, sie beten aus Langeweile, sie verlieben, verheirathen und vermehren sich aus Langeweile und sterben endlich aus Langeweile“, lässt Georg Büchner seinen Protagonisten Leonce im Lustspiel „Leonce und Lena“ sagen. Und damit sind die Menschen wohl nicht allein. Søren Kierkegaard, dänischer Wegbereiter der Existenzphilosophie, erklärt schelmisch den Ursprung der Langeweile wie folgt: „Die Götter langweilten sich, darum schufen sie den Menschen. Adam langweilte sich, weil er allein war, darum ward Eva erschaffen.“ Wie sieht es nun mit der menschlichen Kreation, der künstlichen Intelligenz aus? Die polnische Künstlerin Alicja Wysocka erhielt von einem Chatbot auf die Frage, ob dieser sich langweile, die nüchterne Antwort: „As an AI language model, I don’t experience boredom as humans do“.
ÜBER TASSEN, KARUSSELLFAHRZEUGE UND FINGERSPIELE
Ihre Videoinstallation „Untitled (Nothing Happens)” (2023) könnte man als eine Versuchsanordnung über Freizeit, Erwachsensein und Langeweile beschreiben. Fünf Frauen im besten Alter sitzen in einer überdimensionalen Porzellantasse, die ihrerseits auf einer riesigen Untertasse Platz findet. Das übergroße, altmodische Geschirr erinnert an ein in die Jahre gekommenes Karussellfahrzeug, dreht es sich doch im Laufe des 30-minütigen Films unaufhörlich samt seinen Passagierinnen im Kreis. Die ersten zehn Minuten gleichen einer Mischung aus Meditation und Müßiggang: Augen schließen und in sich gehen, ausdruckslos in die Ferne starren, den immer schwerer werdenden Kopf auf der Hand abstützen. Unerwartet kommt plötzlich Bewegung in die Runde, Augen werden geöffnet, die Frauen interagieren zum ersten Mal miteinander, strecken Finger in die Höhe und beginnen mit Finger- und Handspielen, lachen dabei und unterhalten sich beiläufig.
Alicja Wysockas „Untitled (Nothing Happens)“ zeigt gleichermaßen nichts und alles, lädt ein, sich im Habitus und Gemüt der Protagonistinnen zu verlieren, während sowohl die Interaktion der Frauen miteinander als auch die Dynamik innerhalb der Gruppe wie von selbst in den Vordergrund rücken. Schon in anderen Arbeiten beschäftigte sich die Künstlerin in multimedialen Installationen, Art-Workshops oder in gemeinschaftlichen Performances mit Gruppendynamiken und Konzepten von Gemeinschaften. Projekte wie „Solstice/Equinox“ (2018-2022) drehen sich um kommunale, paganistische Rituale, in „Lamentations“ (2021) thematisiert Wysocka anhand slawischer Oster-Zeremonien eigene Traumata. Die Ausstellung „ZDRÓJ“ (2022) beschäftigte sich mit der vermeintlichen Heilkraft von Wasser, ob nun im Rahmen heidnischer Rituale oder als weniger esoterisches Element in der egalitären Tradition russischer/sowjetischer oder türkischer Dampfbäderbesuche. In „Untitled (Nothing Happens)“ wird das Publikum in gewisser Weise zum unsichtbaren Teil der Frauengemeinschaft, die in der überdimensionalen Teetasse ihre Runden dreht. Zurückgeworfen auf die eigene Imagination und Auffassungsgabe, nehmen die Zuschauenden an einer Art Meditation über Potentiale des Müßiggangs teil.
Ausschließlich Frauen im Ruhestand stehen im Mittelpunkt
Als zweiten Film hat sich Alicja Wysocka für „The Company of Strangers” (1990) der kanadischen Regisseurin Cynthia Scott entschieden. Die Geschichte lässt sich rasch zusammenfassen: Eine Gruppe von acht Frauen strandet nach einer Buspanne in der kanadischen Wildnis. Die sieben älteren Ruheständlerinnen und die jüngere Busfahrerin finden ein verlassenes, rustikales Farmhaus und lernen sich im Laufe des Films besser kennen: Scott zeigt die Protagonistinnen, wie sie versuchen, den Bus zu reparieren, Essen zu sammeln, und bei all den alltäglichen Aufgaben, die anfallen, wenn man im Nirgendwo zu überleben versucht. Die persönlichen Gespräche, die sich hierbei entwickeln, sind von den Laiendarstellerinnen größtenteils improvisiert und geben Einblick in deren tatsächliches, persönliches Leben.
Wenn Cynthia Scotts wunderbarer Film nach gut 100 Minuten zu Ende geht, hinterlässt in einem den unbändigen Wunsch, er möge mindestens noch weitere 100 Minuten gehen. Selten präsentiert Kino so aufrichtig, anrührend und gleichzeitig unsentimental wahrhaftige Individuen auf der Leinwand und löst das große Versprechen des bewegten Bildes, spezifische menschliche Erfahrungen intersubjektiv erlebbar zu machen, so würdevoll ein. In ihrer Mimik, ihren Gesten, ja in ihren ganzen Wesen spiegeln sich hier die mannigfaltigen Erscheinungsformen des menschlichen Lebens geradezu wider. Und das so beiläufig und selbstverständlich, dass kaum auffällt, wie selten das doch vorkommt: Sowohl „The Company of Strangers“ als auch Alicja Wysockas „Untitled (Nothing Happens)“ setzen ausschließlich jeweils Frauen im Ruhestand in das Zentrum ihrer Werke, die hier nicht – wie sonst so oft – als Story-Vehikel lediglich eine untergeordnete Rolle spielen, sondern einen ganzen Film mühelos tragen.