Wenn Pädagogik aus dem Ruder läuft: Die Künstlerin Pilvi Takala zeigt mit ihrem Film im Double Feature am 27. März, dass das Leben eines Lehrers zur Leibeigenschaft werden kann.
Die Schulzeit ist für mehr oder minder jeden eine prägende Zeit sondergleichen. Während die einen im späteren Leben ihre Klassenkameraden, die freie Zeit, Freiheit von Verantwortung oder den sich stetig wiederholenden Schulalltag vermissen, sind andere froh, das soziale Zwangskabinett Schulklasse, das dem Einzelnen schon mal die Kindheit und Jugend vermiesen kann, hinter sich gelassen zu haben.
Wieder andere nun kehren der Schule nie so recht den Rücken, sondern wechseln lediglich die Seiten und stehen fortan hinter dem Lehrerpult. Dabei bleibt die Schule für die Lehrkraft in aller Regel lediglich Arbeitsplatz und nicht Lebensumfeld per se. Mit einer Ausnahme: dem Internatslehrer, der sein persönliches Leben quasi der beruflichen Aufgabe unterwirft und so auf dem Internatsgelände das Experiment, Beruf und Privatleben zu einer Einheit zu verschmelzen, fortan rund um die Uhr zu leben hat.
Gehalt in Sachleistungen
„Drive with care“ (2014) der finnisch-stämmigen Künstlerin Pilvi Takala (*1981) verschafft dem Zuschauer Einsicht, wie dies im Einzelnen aussehen kann: Die Erzählerin berichtet aus dem Off von ihrem Leben als Lehrerin an einer amerikanischen boarding school. Man erfährt, dass ein Großteil ihres Gehalts in Sachleistungen gezahlt wird. Weder Miete oder Strom noch Internet müssen gezahlt werden, auch anfallende Reparaturen im Haus übernimmt der campuseigene Hausmeister. Das komplette Leben spielt sich auf dem Gelände der Schule ab: Den eigenen Nachwuchs bringt man in den Campus-Kindergarten, eingekauft wird im ansässigen Shop, und zu Mittag wird in der Mensa gespeist.
Doch mit dem Unterrichten der Kinder ist für die Lehrbeauftragten noch lange nicht Schluss: So ist jeder Lehrer für eine bestimmte Anzahl von Kindern als „Advisor“, eine Art Elternersatz, tätig. Der Advisor hilft beispielsweise bei der Vorbereitung auf die Führerscheinprüfung, begräbt das tote Haustier und tröstet über dessen Verlust hinweg oder fährt die Schüler auch mal zu einer Fastfood-Kette, wenn sie keine Lust auf das Mensa-Essen haben – anschließender Kino-Besuch inklusive.
Die Performance des Lehrkörpers
Je länger die namenlose Erzählerin in „Drive with care“ aus ihrem Alltag berichtet, je klarer wird der subtile Druck. Ein klassischer Feierabend existiert nicht, rund um die Uhr muss sie den Kinder zur Verfügung stehen, was schließlich dazu führt, dass sie sich in ihrer Wohnung kaum noch bewegt – aus Angst, es könne jederzeit jemand um Hilfe bitten, beispielsweise um sein Popcorn in ihrer Mikrowelle zubereiten zu dürfen. Die Erzählerin bemerkt lakonisch, dass sie sich für das nächste Semester vielleicht eher an einem Jungen-Internat bewerben werde, in der Hoffnung, dass diese nicht rund um die Uhr in allen Angelegenheiten emotionale Unterstützung benötigen. Auch der Arbeitgeber hat Anforderungen an das Berufs- und Privatleben der Lehrerin: Beruflich wird ihre „performance“ permanent bewertet, privat muss sie verheimlichen, dass sie mit ihrem Freund zusammenlebt, da das Paar nicht verheiratet ist.
„Drive with care“ beruht auf Erfahrungen, die Takala selbst als Lehrerin an einer Privatschule gemacht hat. Der Film beschreibt den sozialen Lebensraum, den das Biotop Internatsschule darstellt, und erzählt vom psychischen Druck, der sowohl durch die Kinder als auch die Administration aufgebaut wird. Ein Entkommen ist allenfalls durch Verstecken möglich.
7000 Pfund-Hüpfburg
Takala setzte sich auch in vergangen Arbeiten mit den Strukturen, Regeln und Anforderungen von sozialen Communities auseinander: In „Players“ (2010) portraitierte sie sechs in Bangkok lebende Poker-Spieler und verschaffte sich Einblick in deren subkulturellen Lebensraum, im Rahmen des Projekts „The Committee“ übergab sie acht- bis zwölfjährigen Kindern einen Großteil ihres zuvor gewonnenen Künstlerpreisgeldes und beobachtete dabei, wie die Kinder komplett eigenständig ein kommunales Projekt realisierten – die Kinder entschieden sich, von den rund 7000 Pfund eine fünfstöckige Hüpfburg zu bauen.
Mit Anna Odells Spielfilmregiedebüt „Återträffen“ (The Reunion) aus dem Jahr 2013 bleiben wir im sozialen Schlachtfeld Schule, allerdings auf der Seite der Schüler. In Zeiten des Internets, in dem ehemalige Mitschüler leichter als früher beinahe überall auf der Welt ausfindig zu machen sind, sind Ehemaligen-Treffen gang und gäbe. Die Regisseurin Anna Odell, die zu ihrer Schulzeit zu den gemiedenen Außenseitern gehörte, wurde zu ihrem Klassentreffen jedoch nicht eingeladen, was sie dazu veranlasste, eine filmische Was-wäre-wenn-Version des Treffens umzusetzen.
Drangsalierung durch Mitschüler
Der 90-minütige Film macht sehr schnell klar, in welcher Welt wir uns befinden: Es ist die Welt des Dogma-Films, und so erinnert die erste Hälfte des Films stark an Thomas Vinterbergs Meisterwerk „Festen“ aus dem Jahre 1998. Anna Odell, die sich im Film selbst spielt, taucht etwas zu spät auf dem Klassentreffen auf und beginnt damit, die feierliche Stimmung zu torpedieren. In Ansprachen beklagt sie ihr damaliges Leid und die Drangsalierung durch andere Mitschüler, mit dem vorhersehbaren Ergebnis – die Lage eskaliert. Nach zirka 40 Minuten jedoch der Coup: Der Zuschauer hat bloß einen Film im Film gesehen, genau jenen nämlich, den die nun deutlich zurückgenommener agierende Odell im Folgenden ihren alten Klassenkameraden zeigen möchte, um mit ihnen über die damalige Zeit zu sprechen.
Während sich der zweite Teil einen dokumentarischen Anstrich gibt, ist auch dieser tatsächlich von Schauspielern umgesetzt. Die Regisseurin lässt den Zuschauer im Unklaren, ob die Treffen mit den alten Klassenkameraden lediglich fiktiv sind oder ob sie eine Art Reenactment von reellen Begegnungen darstellen. Odell arbeitet sich auf narzisstische Weise an den Dämonen der Vergangenheit ab, wie schon zuvor in ihrem Kunstfilm „Okänd, kvinna 2009-349701“ (Unknown, woman 2009-349701), in dessen Rahmen sie öffentlichkeitswirksam ihren Selbstmordversuch auf einer Stockholmer Brücke nachstellte, um im Folgenden von der Polizei in die Psychiatrie gebracht zu werden.
Anna Odell wie auch Pilvi Takala zeichnen ein Bild des sozialen Bezugsraums Schule, indem sie den Einzelnen die Grenzen des Machbaren innerhalb der unausgesprochenen Zwänge und Normen jenes ausloten lassen. Interessant sind hierbei gerade die spezifisch gewählten Sozialräume, namentlich der Umgang mit Außenseitern im sozialdemokratisch vorbildlichen Schweden wie in Odells „Återträffen“ oder aber die Auswirkungen einer engagierten Pädagogik wie in „Drive with care“, der sicherlich den Schülern gefällt, das Leben der Lehrer aber beinahe zurück in feudale Strukturen zurückwirft: in die der Leibeigenschaft.