Videokünstler Mikhail Karikis erforscht, wie Klang und die menschliche Stimme den Gemeinschaftssinn stärken.
25 Jahre nach Erscheinung der Erstausgabe des Science-Fiction Romans „The Iron Man“ veröffentliche der britische Autor Ted Hughes 1993 mit „The Iron Woman“ die Fortsetzung seines erfolgreichen Kinderbuches. Hatte im ersten Teil noch ein gigantischer Roboter die Menschheit vor einem Drachen aus dem Weltall beschützt und hierdurch für Frieden zwischen den notorisch verfeindeten Menschen gesorgt, beschäftigte sich „The Iron Woman“ mit der industriellen Verschmutzung der Umwelt, verursacht vornämlich durch das männliche Geschlecht.
Angetrieben durch das Leiden der geschundenen Fauna tritt die den Tiefen einer Sumpflandschaft entstiegene „eiserne Frau“ einen Rachefeldzug gegen die alles vergiftende Männerwelt an. Eine ihrer Waffen im Kampf gegen die Umweltsünder: ein alles betäubender Schrei, der in sich vereint die Pein der geplagten Schöpfung wiedergibt.
In der Videoarbeit „No Ordinary Protest“ (2018) des griechisch-britischen Künstlers Mikhail Karikis (*1975) stellt Ted Hughes‘ „The Iron Woman“ den Ausgangspunkt dar. In Workshops mit Kindern einer Londoner Grundschulklasse ließ er diese über den Inhalt des Buches diskutieren. „No Ordinary Protest“ zeigt die siebenjährigen Schüler bei ihren Gesprächen und dabei, wie sie sich Gedanken über Umweltverschmutzung und deren Auswirkung auf die Tierwelt machen. „Humans are animals as well“ sagt ein Mädchen und löst damit eine lebhafte Diskussion aus. Als zentralen Punkt seiner bisherigen Arbeiten beschrieb Mikhail Karikis im Interview mit der Whitechapel Gallery folgende Frage: „What kind of transformative power does communal sound-making have?“
What kind of transformative power does communal sound-making have?
Die Kinder bat der Künstler deshalb darum, den Schrei der eisernen Frau auf verschiedene Weise nachzubilden: mit Instrumenten oder Spielzeug, durch Händeklatschen oder mit der eigenen Stimme. Die Soundschnipsel verwob Karikis dann zu einer Komposition, die in „No Ordinary Protest“ dann im wahrsten Sinne des Wortes Berge versetzt: abgefilmte Mikrolandschaften bewegen sich durch die Vibrationen der Klänge und die vom Künstler gestellte Frage scheint sich auf beeindruckende Weise zu beantworten.
Die Region in dem Film ist gemeinhin als Tal des Teufels bekannt
Klanglandschaften, Kinder und Jugendliche sowie deren Lebensrealität in ziehen sich als roter Faden auch durch die zwei anderen Arbeiten, die im Double Feature zu sehen sein werden: In der multimedialen Arbeit „Children of Unquiet“ (2014) arbeitete der Künstler mit Kindern aus der toskanischen Region zusammen, die gemeinhin als Tal des Teufels bekannt ist. Dort steht seit gut 100 Jahren eines der weltweit größten Erdwärme-Kraftwerke; für die dort angestellte Arbeiterschaft entwarf der renommierte Architekt Giovanni Michelucci im Auftrag des Stromversorgers eigens eine Arbeitersiedlung. Voranschreitende Automatisierung durch technischen Fortschritt machte die Arbeitskraft Mensch jedoch zusehends unnötiger, ganze Stadtviertel stehen mittlerweile leer.
In „Children of Unquiet“ erstellen Kinder in Workshops futuristische Zeichnungen und Pläne, in Fotografien und Super-8-Filmen beschäftigten sie sich mit der Zukunft der verlassenen Siedlungen. Der gleichnamige Film zeigt eine Übernahme der leerstehenden Straßenzüge durch die Nachgeborenen, während sie mittels ihrer eigenen Stimmen in choralen Tonclustern versuchen den Klang des Ortes selbst wiederzugeben. Im Film „Ain’t got no fear“ (2016) beschäftige sich Mikhail Karikis wiederum mit dem Lebensalltag der jungen Bewohner der Isle of Grain in England.
Was machen Jugendliche im postmodernen Internetzeitalter?
Zunächst setzt er die Kinder ganz im Sinne genretypischer Musikvideos bei der Performance eines selbstgeschriebenen Rap-Songs in Szene, bevor sie schließlich beim Herumstreifen in der post-industriellen Landschaft gezeigt werden. Die Adoleszenz in Zeiten des postmodernen Internetzeitalters, in Zeiten aufgeheizter Popularisierung, in Zeiten zunehmender Politisierung – all jene Themen verhandelt Mikhail Karikis in seinen Arbeiten in Zusammenarbeit mit den zukünftigen Protagonisten unserer Welt. Und findet dabei vielleicht im tatsächlichen wie auch übertragenen Sinne den Klang ihrer eigenen Stimmen.
Für den zweiten Teil des Double Features hat sich Mikhail Karikis für Agostino Ferrentes dokumentarhaften Film „Selfie“ (2019) entschieden, der auf der diesjährigen Berlinale seine Weltpremiere feierte. Hier sind es die Augen zweier 16-jähriger Jugendlicher – Pietro und Alessandro –, durch die der Zuschauer deren Lebensalltag miterlebt. Beide wohnen im neapolitanischen Bezirk Traiano, in den Medien besser bekannt als Hochburg der Camorra.
Mit Smartphones sollen die Freunde ihre eigene Realität in Szene setzen
Agostino Ferrente wurde auf die beiden Jugendlichen aufmerksam im Rahmen von Recherchen über die fahrlässige Tötung des 16-jährigen Davide Bifolco durch einen Polizisten: Pietro und Allessandro waren mit dem Opfer befreundet. „Erzählt mir von eurer Freundschaft“ fordert Ferrente die beiden zu Beginn auf. Im Folgenden glänzt der Regisseur vor allen Dingen durch Abwesenheit, indem er den beiden Freunden Smartphones übergibt und sie bittet, ihren eigenen Film, ihre eigene Realität in Szene zu setzen. Pietro und Allessandro berichten aus ihrem Alltag, zeigen ihre Lebensumgebung, filmen sich selbst und den jeweils anderen bei Treffen mit Angehörigen ihres erschossenen Freundes oder mit Bekannten, beim Herumlungern, beim Kochen oder auf dem Klo.
Im Laufe des Films treten die Fragen nach der Narration des eigenen Lebens immer weiter in den Vordergrund: Alessandro will einen positiven Einblick in die verrufene Nachbarschaft geben, Pietro will auch die negativen Seiten nicht verschweigen und filmt sich mit Bekannten, die am helllichten Tage mit Waffen auf offener Straße um sich schießen. „Selfie“, der bis zuletzt nie die tatsächliche Rolle des Regisseurs Agostino Ferrentes preisgibt und sich ganz auf seine beiden Protagonisten einlässt, ist ein bemerkenswertes Filmdokument über eine Zeit, in der die ökonomische Herkunft immer noch die je eigene Zukunft – so scheint es – absolut bestimmt.
Eine Zeit, die im gedankenlosen Selfie vielleicht ihre tragische Entsprechung gefunden hat, spiegelt dieses einem doch immer noch das, was man ohnehin schon kennt, und hält es für die Ewigkeit fest. Anders allerdings in Ferrentes „Selfie“, das dem Zuschauer einen seltenen Einblick in den Alltag zweier vom Rest der Welt weitgehend vergessener Jugendlicher mitten in Europa erlaubt, und gleichzeitig bei den Freunden eine Reflexion über ihr eigenes Leben anstößt.