Was sagt ein Schmuckstück über sich selbst und seinen Besitzer aus? Die Künstlerin Lili Reynaud-Dewar thematisiert im DOUBLE FEATURE am 29. Januar aktuelle Diskussionen um kulturelle Aneignung, Identitätspolitik und Begriffsambivalenz.
Wie viele Eigenschaften hat ein Ding? Und was verrät uns ein Objekt über sich selbst und seinen Besitzer? Ein Kassengestell beispielsweise ist in erster Linie erst einmal eine günstige Brille. Lange galt diese, von der Krankenkasse übernommene Sehhilfe gleichermaßen als „Synonym für unsportliche Bräsigkeit und weltfremdes Strebertum“, wie es die Süddeutsche Zeitung einmal treffend formulierte. Im Laufe der Zeit mauserte sich das Kassengestell dann allerdings eher zu einem Hipster-Accessoire.
Hier scheint der doppelte Boden des Objektes auf, das neben seinem praktischen, ursprünglichen Nutzen gleich noch sozialen Status und Ich-Identität preiszugeben vermag. Diese „zweiten Eigenschaften“ weisen zudem auch eine Historizität auf, die sich im Laufe der Zeit wandeln kann. Besonders augenscheinlich wird diese zweite Eigenschaft bei Schmuckstücken, wenn ihre zunächst profane Funktion der Verzierung durch Aussagen über Wohlstand oder sozialen Status überlagert wird.
Körperschmuck oder kulturelle Aneignung
Ein „Grill“ beispielsweise, bestehend aus Gold, Silber oder anderen Edelmetallen, wird wie eine Spange auf die Zähne gesetzt. Zunächst wurde er in den 1980er Jahren durch Hip-Hop Künstler in Amerika verwendet, bevor Musiker aus dem Süden der Vereinigten Staaten das Schmuckstück ab den 2000ern weltweit bekannt machten. Lili Reynaud-Dewar zeigt zu Beginn ihrer Video-Arbeit „TEETH, GUMS, MACHINES, FUTURE, SOCIETY” aus dem Jahre 2016 einen ebensolchen Grill, der behutsam auf die Vorderzähne gesetzt wird. Die Künstlerin ließ solche Zierstücke für ihre Protagonisten, vier Comedians, einen Musiker und eine Künstlerin, maßanfertigen, die sie während der Dreharbeiten trugen.
Was sagt dieses Schmuckstück aus? Ist es ganz einfach nur eine Verzierung und Körperschmuck? Das Zuschaustellen des sozialen Status und materiellen Wohlstands? Oder impliziert das Tragen vielmehr die kulturelle Aneignung von Symbolen benachteiligter Minderheiten? Darüber lässt Reynaud-Dewar ihre Protagonisten in „TEETH, GUMS, MACHINES, FUTURE, SOCIETY“ in Memphis streiten. In eben jener Stadt, in der die größtenteils afro-amerikanischen Mitarbeiter der städtischen Müllabfuhr Ende der 1960er Jahre einen vielbeachteten Streik gegen katastrophale Arbeitsbedingungen und rassistische Benachteiligung durchführten und in eben jener Stadt, in der im selben Jahrzehnt Martin Luther King, Jr. ermordet wurde.
A Cyborg Manifesto
Wiederholt thematisiert Reynaud-Dewar diese spezifische Historie auf visueller Ebene: Die Protagonisten verteilen Abfall, überdimensionierter Müll fliegt vor der Kamera herum und wird unterlegt mit aktuelleren Hip Hop-Produktionen, für die die Metropole im vergangenen Jahrzehnt bekannt wurde. In die Diskussion um Identitätspolitik und die Ambivalenz von Begriffen und Symbolen, festgemacht am Schmuckstück Grill, führt die Künstlerin mit Donna Haraways Essay „A Cyborg Manifesto“ aus dem Jahr 1984 eine weitere Diskurs- wie Deutungsebene hinzu. In dem posthumanistischen Werk erarbeitete die Feministin das Konzept eines Cyborgs: Ein Wesen, das außerhalb ethnischer, speziesistischer oder physikalischer Grenzen und Unterscheidungen existiert und diese somit in gewissem Sinne transzendiert.
Reynaud-Dewar lässt verschiedene Passagen aus dem Buch verlesen und die Protagonisten hierüber streiten, derweil sie durchs Anlegen der Grills zumindest äußerlich den diskutierten Cyborgs näherkommen. Der Film endet in einem Amphitheater, historisch der Austragungsort von Gladiatorenkämpfen und Theatervorführungen: Von einem Hochsitz herunter wird Haraways Werk vorgetragen, während man sich unten über Cyborgs und Gesellschaft unterhält. Einsam in einer Ecke steht ein DJ und spielt ein Elektro-Set. Ein munteres Durch-, Neben und Miteinander – Zuschauer hingegen sind weit und breit nicht zu sehen.
Ein aussterbendes Soziotop
Als Lieblingsfilm hat sich Lili Reynaud-Dewar „La chatte à deux têtes“ (2002) des französischen Regisseurs Jacques Nolot ausgesucht. Der Film schildert das Treiben in einem kleinen Pariser Sexkino: Nolot, der auch eine der Hauptrollen übernimmt, entführt den Zuschauer in das seit dem Video- und Internetzeitalter aussterbende Soziotop. In anrührenden, lustigen, traurigen und sexuell sehr expliziten Szenen werden die Besucher sowie Mitarbeiter des Kinos für einen Nachmittag begleitet – hetero-, homo- und transsexuelles Publikum, Singles sowie Verheiratete gehen im Zwielicht des Kinos ihren Bedürfnissen, ihrem Wunsch nach Anerkennung und Zuneigung nach, und dies jenseits von verbalisierten Identitätsverortungen der Protagonisten.
Umrahmt wird das Gezeigte durch die Gespräche der kassierenden Kinobesitzerin (Vittoria Scognamiglio) mit dem jungen Filmvorführer (Sébastien Viala). Die vorurteilsfreie Frau, die schon alles gesehen und ausprobiert hat, berichtet dabei aus ihrem (Liebes-) Leben . Nolot verschiebt in „La chatte à deux têtes“ die typischen Rollenmuster: die dem Kontext nach eigentlichen passiven Kinozuschauer sind hier die aktiven Protagonisten. Der heruntergekommene Kinosaal und natürlich die angrenzende Toilette werden zum gesellschaftlichen Handlungsraum, während der Filmzuschauer die Rolle des Voyeurs übernimmt. Gezeigt werden Figuren, die zumindest im geschützten Dunkel des Kinos, dem das rege Treiben seiner Besucher deutlich anzusehen ist, vielleicht unverhofft einen Ort gefunden haben, an dem eine gesellschaftliche Tabula rasa herrscht, an dem sich nicht um Alter, Herkunft oder sozialen Status geschert wird.
Dieser Aspekt erinnert dann ausgerechnet an jene Gesellschaftsvision, die größtenteils völlig a-sexuell daherkommt: Die Cyborg-Utopie, die Reynaud-Dewar in „TEETH, GUMS, MACHINES, FUTURE, SOCIETY“ den aktuellen Diskussionen um kulturelle Aneignung, Identitätspolitik und Begriffsambivalenzen im Sinne eines Lackmustests gegenüberstellt: die Möglichkeit einer Gemeinschaft, jenseits scheinbar trennender Unterschiedlichkeiten der einzelnen Mitglieder. Gegründet lediglich auf Affinität zueinander, so wie sie Donna Haraway in ihrem Werk „A Cyborg Manifesto“ forderte.