Am 30. November zeigt der Künstler Andrew Norman Wilson seinen aktuellen Film "Ode to Seekers 2012" im DOUBLE FEATURE.
Langsam lichtet sich der Vorhang aus Rauch, der vor der Linse zu kleben scheint, und wir hören das rhythmische Rascheln eines Tamburins. Die Kamera gibt langsam das Bild frei auf ein verlassenes Gebäude, durch das sie sich fortan schwankend bewegt: von der Zeit angenagte Wände, eine „König der Löwen“-Tapete, leere Regale sowie diverser Unrat und Spielzeug auf dem Boden.
Zu dem Tamburin gesellen sich Synthesizer und Beat, die Musik kumuliert in einem naiv-fröhlichen House-Song, während die Kamera weiter durch die heruntergekommene Szenerie schreitet, in der vor kurzem noch Partys stattgefunden zu haben scheinen. Der Blick ist ein hyperrealistischer – aufgrund der übertriebenen Schärfe erscheint alles plastisch, als sei die äußere Erscheinung der Objekte nur aufgemalt und drohe jeden Moment abzublättern. Schließlich bewegt sich die Kamera auf eine gelbe Rauchsäule zu, durchschreitet sie und taucht ein in die Welt der Moleküle, die comichaft ihren wirren Tanz aufführen.
Moskito, Ölpumpe und Spritze
Andrew Norman Wilsons (*1983) gut acht-minütige Videoarbeit „Ode to Seekers 2012“ (2016) entstand in der Zusammenarbeit mit dem rumänischen Animator Vlad Maftei, dessen Können in der zweiten Hälfte des Werks stark in den Vordergrund tritt. Während des Tanz‘ der Moleküle crossfaded die House-Musik über in Icona Pop’s „I love it“ (hier in einer Remix-Version von Wilson selbst) und wir befinden uns bald darauf in einer digitalen Steinwüste, in der nun abwechselnd ein Moskito, eine Ölpumpe und eine Spritze etwas aus einem Erdloch saugen, während die Beats des Electro-Pop Hits ihrerseits hierzu im Takt pumpen.
Was folgt ist eine amüsante digitale Animationsmontage, im Stile von Eurotrash-Musikvideos, die sehr bedacht eine fließende Schnittfolge von Musik und Bild, und die abwechselnd saugende und pumpende Dreifaltigkeit aus Stechmücke, Ölpumpe und Spritze in Szene setzt. Der dritte Teil schließlich wird mit der Bildüberschrift „2012“ eingeführt und zeigt im Folgenden eine industrielle Apparatur, auf deren Laufband diversen Gegenständen durch Moskitorüssel, Ölpumpe und Spritze jegliche Farbe entzogen wird, während im Hintergrund Katastrophenbilder von Flugzeugabstürzen eingeblendet werden.
Verantwortlich für seine Traumata
In einem Text für das Artforum-Magazin beschreibt Andrew Norman Wilson „Ode to Seekers 2012“ als eine Zelebration von Moskitos, Ölpumpen und Spritzen, die neben ihrer Symbolhaftigkeit als große Bedrohungen der Menschheit (übertragbare Krankheiten, Öl-Industrie und Drogenabhängigkeit) sich auch verantwortlich für seine ganz eigenen Traumata zeigen. Die Arbeit habe er in der Form einer Ode strukturiert und sich hierbei an einem der größten Gedichte der englischen Sprache orientiert: John Keats „Ode on a Grecian Urn“ (Ode auf eine griechische Urne).
In dem Gedicht, welches seinerzeit auf große Ablehnung stieß, versuchte sich Keats an einer Weiterentwicklung der klassischen Oden-Form, die ihn nicht so recht zufriedenstellen konnte. In dem Gedicht beschreibt das Lyrische Ich – dem Titel folgend – eine alte griechische Urne, während auf der Metaebene das Verhältnis von Kunst und Kunstrezeption erörtert wird.
Apokalyptische Gefühle
Gedreht wurde der Film im Rockland Psychiatric Center in Orangeburg, New York, in dem Wilson 2012 an einem psychologischen Test teilnahm. Er entdeckte, dass etliche Teile des Anstaltskomplexes leer standen und regelmäßig von Obdachlosen, Junkies und Partywilligen genutzt wurden - und filmte dort kurzerhand mit seiner Steady-Cam. In vergangenen Arbeiten thematisierte Wilson häufig internationale Industriekomplexe: seine Produktionsfirma „SONE“ bot so beispielsweise Werbekampagnen für wirtschaftliche wie kulturelle Betriebe an, die mittels drastischer Bildersprache apokalyptische Gefühle evozieren sollten, und veranstalte hierfür eigens Public Investor Meetings.
In „Workers leaving the Googleplex“ beschäftigte sich Wilson mit den innerbetrieblich schlechter gestellten Google Books-Mitarbeitern, was ihn schließlich seinen eigenen Job beim Internet-Giganten kostete. „Ode to Seekers 2012“ hingegen nimmt schon mittels der subjektiven Kamera eine persönlichere Form an, codiert diesen Zugang jedoch wieder durch animierte Symbole und eine Musikvideoästhetik, die immer schon den ironischen Bruch in sich führt und hier an die Verspieltheit voriger Arbeiten erinnert.
Ein kranker Film von kranken Menschen
Als Lieblingsfilm hat sich Wilson für Nicolas Roegs „Bad Timing“ aus dem Jahre 1980 entschieden. Im Sinne Wilsons eigener Arbeit könnte dieser den Untertitel „Ode an Liebhaber“ tragen – jedoch nicht im romantischen als viel mehr im obsessiven und destruktiven Sinne. Der Film erzählt in der Form einer Kriminalgeschichte die Liebes- und Leidensgeschichte des Psychoanalytikers Alex Linden (Art Garfunkel) und der jungen Amerikanerin Milena Flaherty (Theresa Russell). „Bad Timing“ beginnt mit dem Krankenwagentransport der Milena Flaherty, die sich kurz zuvor eine Medikamentenüberdosis verabreicht hat. Im Folgenden erzählt der Film in einer fulminanten Montage, wie es zu dem Selbstmordversuch kam – in Rückblenden aus der Erinnerung des Alex Linden im Rahmen der Polizeiermittlung durch Inspektor Netusil (Harvey Keitel).
Der Film wurde 1980 in nur wenigen Kinos gezeigt und die Produktionsfirma „The Rank Organisation“ zog ihr bekanntes Logo aus dem Abspann zurück: „Ein kranker Film von kranken Menschen für kranke Menschen“, so das Credo. Ambivalent wie kompromisslos schildert Nicolas Roeg eine Liebesgeschichte voller Leidenschaft und Obsession und seziert jene Mechanismen, die aus verliebter Zuneigung sexuelle Besessenheit werden lassen. Form und Inhalt ergänzen sich in „Bad Timing“ absolut, übersteigen doch jene Problematiken einer Liebesbeziehung simple er-sagte-dies-und-sie-dann-das-Erzählstrukturen. Dank häufiger Fernsehausstrahlungen erlangte „Bad Timing“ gerechtfertigter Weise schon in den 1980er-Jahren Kultstatus, während die Home Release-Version erst 2005 in Amerika auf den Markt kam. Die lakonisch-freche Ironie des Titels verweist zurück auf Wilsons „Ode to Seekers 2012“: das größte Trauma verlangt manchmal vielleicht die größtmögliche Ironie.