Ungute, düstere Vorahnungen prägen die Atmosphäre von Blaise Kirschners Videoarbeit „UNICA“ (2022). Oder viel eher verdrängte Erinnerungen? Zwischen Virtualität und Realität changierend, begleiten wir im kommenden Double Feature die Protagonistin Unica B beim Dreh eines postapokalyptischen Videospiels.
Kurz noch wird Unica B (Grete Gehrke) in einen vollständig schwarzen Anzug eingekleidet, der mit sogenannten Trackern versehen wird, und schon befindet sie sich mutterseelenallein in einem spartanisch eingerichteten, großen Raum. Aus dem Off hören wir eine digital verzerrte Stimme: „Auf dem Schreibtisch, Fotografien von vor der Katastrophe. Karten zum Falten und zum Ausrollen […] In der Schublade: ein Autoschlüssel“. Wir befinden uns am Set zu Dreharbeiten eines postapokalyptischen Videospiels. Unica B’s Körper wird mittels Motion Capture-Verfahren ausgelesen, ihre Bewegungen werden anhand der befestigten Marker ausgemessen und an eine digitale Spielfigur übermittelt. Die Stimme aus dem Off gibt prägnante Anweisungen, wohin die Schauspielerin sich zu bewegen und was sie dort zu tun hat. Was sie tun soll, nennt man in Videospielen typischerweise looten, also erbeuten: hier ein Feuerzeug einstecken, dort eine Lampe, und im nächsten Zimmer gibt es ein Schwert, mit dem später Gegner*innen bekämpft werden.
In der Mittagspause telefoniert Unica B mit ihrer Mutter, Unica A (Gabrielle Scharnitzky), die vollkommen aufgelöst ist. Die Wände ihres Ateliers sind vollständig bedeckt von Zeichnungen – „Muster, Organe, Schläuche, Gedärme, Ärsche, Schlingpflanzen, Hände mit Hoden“, wie sie ihrer Tochter mitteilt – und ein verstörender, aber schöner Traum verfolgt sie, der ebenfalls mit Organen und Schlangen zu tun hat.
Versatzstücke aus zukünftigen oder vergangenen Katastrophen
Ungute, düstere Vorahnungen prägen die Atmosphäre von Blaise Kirschners Videoarbeit „UNICA“ (2022). Oder viel eher verdrängte Erinnerungen an Vergangenes?
Immer unklarer wird dies im Laufe der Handlung, deren einzelne Stränge sich zusehends weiter ineinander verweben. Kirschner, deren künstlerisches Werk Filme und Multi-Mediainstallationen umfasst, hat die Arbeit auf Einladung von Fluentum kreiert, einer Plattform zur Sammlung, Präsentation und Produktion zeitgenössischer Kunst mit Fokus auf zeitbasierte Medien. Dort war sie im Rahmen der Programmreihe „In Medias Res: Media, (Still) Moving“ in diesem Jahr auch erstmals zu sehen. Fluentums Ausstellungsräume in Berlin Dahlem wurden 1936-1938 als Hauptsitz des Luftgaukommandos III erbaut, genau zu jener Zeit also, als Hitlers oberster Architekt Albert Speer die Umstrukturierung Berlins zur Reichshauptstadt Germania plante. Jener katastrophale Größenwahn findet in Kirschners Arbeit einen Widerhall, als sich Unica B im weiteren Verlauf der Arbeit auf den Teufelsberg begibt, um auch dort zu looten. Dieses Mal allerdings erbeutet sie Ruinenfragmente und verrostetes Metall, ist doch der Berliner Teufelsberg keine naturwüchsige Gesteinsformation, sondern aus dem bis 1972 abgetragenen Schutt zerbombter Gebäude der Metropole erwachsen.
Jene Assoziationen und Querverweise tauchen in „UNICA“ immer wieder auf. Der Titel selbst bezieht sich auf die deutsche Schriftstellerin und Künstlerin Unica Zürn, auf deren zeichnerisches und literarisches Werk Blaise Kirschner in ihrer Arbeit rekurriert – insbesondere deren Texte und Bilder zu dem Manuskript „Das Haus der Krankheiten“ von 1958. In diesem thematisiert Zürn ihren eigenen Körper in Analogie zu einem Haus, in dem die Organe, Augen und das Herz, Zimmer sind, die betreten werden können und von denen nicht mehr ganz klar ist, ob sie einem selbst gehören oder nicht. Versatzstücke aus zukünftigen oder vergangenen Katastrophen, einer individuellen oder intersubjektiven Wahrnehmung, der Überschneidung von Virtualität und Realität als auch Überlegungen über Körperlichkeit und Materie verknüpft Blaise Kirschner in „UNICA“ zu einer komplexen, unheilvollen Erzählung.
Spiel-Engines für Reenactments von Traumata
Als weiteren Film hat sich Blaise Kirschner „Ariadne“ (2019) der amerikanischen Künstlerin Jacky Connolly ausgesucht, deren Videoarbeiten sogenannte Machinimas sind. Der Neologismus setzt sich zusammen aus den englischen Wörtern machine und cinema und bezeichnet Filme, die mithilfe eines Computerspiels gedreht wurden. Die Künstlerin greift hier auf die Spiel-Engine der bekannten Lebenssimulation „Die Sims 3“ zurück, die sie bereits als Teenagerin selbst viel gespielt hat. Anstatt sich aber, wie in Jugendjahren, im Spiel in Traumwelten zu flüchten, nutzt Connolly die Spiel-Engine in ihren Filmen nun für Reenactments von Traumata. In „Ariadne“ vermischt die Künstlerin selbstgedrehte Szenen aus dem nächtlichen New York, in denen eine junge Frau (gespielt von Connolly selbst) von einem glatzköpfigen Mann abgeholt wird, mit Szenen, die sie in „Sims 3“ kreiert hat.
Hier düstere Realität, dort italienisches Landhaus an einem lauen Sommerabend. Doch durch ein Gewitter scheinen die beiden Welten miteinander verknüpft zu werden und weitere, digitale Realitäten zu entstehen. Als Betrachter*in bleibt man in der Schwebe darüber, ob man sich hier gerade in einer düsteren Vorahnung oder geradewegs im finsteren Nachbeben einer vorangegangenen Katastrophe befindet. Gänzlich ohne Dialoge erschafft Jacky Connolly in „Ariadne“ mittels Bildersprache und Musik eine Narration über Trauma-Verarbeitung, in der sich – wie auch in Kirschners „UNICA“ - verschiedene Zeiten und Realitäten ineinander verweben und zusammen Räume eröffnen, die mit den inneren Zuständen der Figuren verknüpft zu sein scheinen.
Ähnlich vielleicht wie die Zeichnungen, die in „UNICA“ immer wieder in den Kamerafokus rücken: in sich gewundene und geschwungene Linien, die sich mit Gliedmaßen vereinen und zu etwas Neuem werden, dessen Ganzes jedoch nie vollständig zu erfassen ist.