Vielschichtig und ironisch sind die Arbeiten der österreichischen Künstlerin Birgit Jürgenssen, die sich Zeit ihres Lebens mit der Rolle der Frau auseinandergesetzt hat.

In geraden, großzügigen Linien formen sich diese Worte auf dem Rücken von Birgit Jürgenssen zu einem einprägsamen, doppelsinnigen Satz zusammen, der allzu beispielhaft für das Werk der österreichischen Künstlerin steht: Jeder Mensch hat seine eigene Sichtweise, aber auch seine eigene Erscheinung. Und selbst diese entstehen nicht einzig aus sich heraus, nicht ohne jeden fremden Einfluss.

Vielmehr – und hier findet nicht nur ihre Fotografie von 1975, sondern auch das lebenslange künstlerische Fragen und Hinterfragen von Jürgenssen ihren Mittelpunkt – mögen wir zwar selbstständig denkende Menschen sein. Doch immer sind es Gesellschaft und Erziehung, sind es unsere Mitmenschen, die unser Denken, unser Sein und Erscheinen maßgeblich mitprägen. Als Teil der feministischen Kunstbewegung setzt sich Jürgenssen in ihrem multimedialen Werk damit auseinander. Ähnlich wie ihre Gleichgesinnte im Geiste, Cindy Sherman, die damit jedoch ungleich berühmter geworden ist, ist Birgit Jürgenssen insbesondere in ihrem fotografischen Werk zumeist sowohl Künstlerin als auch Modell, Subjekt als auch Objekt. 

Weibliche Stereotypen 

Von Anfang an arbeitete Birgit Jürgenssen (1949 in Wien als zweites Kind in eine Arztfamilie geboren) in unterschiedlichen Medien. Subtil, weil vielschichtig und ironisch, fesselt ihr umfangreiches, medienübergreifendes Werk, zu dem neben Fotografien ebenso Zeichnungen, Skulpturen, Objekte aus unterschiedlichen Materialien, Collagen, Aquarelle, Leinwandarbeiten und Druckgraphiken zählen. Vor allem ihre Fotografien sind es jedoch, mit denen Jürgenssen ihre nachhaltigsten künstlerischen Statements geschaffen hat, die den Tod der Künstlerin im Jahr 2003 überdauert haben.

Indem Birgit Jürgenssen Rollen annimmt und sich verkleidet, überspitzt sie weibliche Stereotypen in ihren Fotografien so sehr, dass sie sich als solche selbst entlarven. Die Hausfrau, die Frau als Mutter und Ehefrau oder auf ihre Schönheit und/oder Körperlichkeit reduziert – dies alles sind gesellschaftlich geschaffene Konstrukte, gegen die Jürgenssen und andere Künstlerinnen der sogenannten Feministischen Avantgarde in der Stimmung der 68er und der daraus entstandenen Frauenbewegung antreten. 

Die Grenzen gesellschaftlicher Wahrnehmung 

Indem sie sich jene zu Eigen machen und dekonstruieren, humorvoll bis ironisch kommentieren, bis vor allem die Frage nach der Identitätsbildung übrig bleibt. Was die Künstlerinnen bei aller Unterschiedlichkeit nämlich teilen: die Erforschung der menschlichen Identität, zumeist der weiblichen. Sie loten die Grenzen gesellschaftlicher Wahrnehmung und Denkmuster aus, um zu erforschen, wie tief kulturelle Konstrukte im Kopf eines jeden Menschen verankert sind – wie sehr müssen zum Beispiel weiblich konnotierte Formen und Stereotypen abstrahiert werden, um nicht mehr als solche verstanden zu werden?

Birgit Jürgenssen, Hausfrauen - Küchenschürze / Housewive's Kitchen Apron, 1975, Image via leisuregroup.at

Werke wie „Ohne Titel (Selbst mit Fellchen)“ von 1974 stellen dabei die in der Kunst ebenso wie in Mythen zu findende Korrelation von Frau und Tier in den Vordergrund; späte Arbeiten wie die Serie „Zebra“ und Jürgenssens Farbfotografien in einem Konkavspiegel („Ohne Titel“, 1979/80) nehmen die Identität noch verstärkter auseinander, lösen sie sogar auf. Dass die Frau hierbei seit Jahrhunderten die Projektionsfläche für gesellschaftliche Vorstellungen ist, werden in ihren „Körperprojektionen“ aus den Jahren 1987 und 1988 besonders offenbar. Die Fotografien von Körperprojektionen sowie die Zerr-, Schatten- und Badewannenbilder gehen verstärkt über das Gegenständliche hinaus und beginnen, die Vorstellungen wortgetreu umzusetzen.

„Ich möchte hier raus!“ 

In anderen Arbeiten wiederum zeigt Birgit Jürgenssen explizit die gesellschaftlich verankerte Wahrnehmung der Frau beziehungsweise ihres Körpers als Oberfläche und Projektionsfläche im Alltag auf, wenn die Künstlerin buchstäblich Rollen anlegt: Kleidung, Schuhe, Make-Up, Maniküre, all dieser weibliche Flitterkram ebenso wie die materiellen Manifestationen der Frauenarbeit werden in ihrem Werk thematisiert, allerdings nicht aufgewertet, sondern neu verortet und interpretiert. Birgit Jürgenssen wird zur Diva, zum Engel, zur Hausfrau – nur, um in ihnen selbst ihre Auflösung zu fordern. Der Titel einer ihrer bekanntesten Arbeiten von 1976 spricht für sich: „Ich möchte hier raus!“

Birgit Jürgenssen, Nest, 1979, Image via leisuregroup.at

„So oft ist die Frau Kunstobjekt, selten und ungern lässt man sie selbst zu Wort oder Bild kommen. Ich möchte einmal die Möglichkeit haben, mich nicht immer nur mit Kollegen, sondern auch mit Kolleginnen vergleichen zu können,“ schreibt Jürgenssen 1974 an den DuMont-Verlag und fordert einen Sammelband über Künstlerinnen. Die Anfrage wird abgelehnt. Ebenso wie eine zweite. Umso verstärkter nutzen Jürgenssen und andere österreichische sowie internationale Künstlerinnen ihrer Zeit ihre Kunst, um ihren Anliegen eine Bühne zu verschaffen.