ICH: DAS GRENZENLOSE SELBST

DIE SELBSTERFÜLLENDE PROPHEZEIUNG

Algorithmen analysieren die menschliche Identität bisher nur aus ökonomischen Gründen. Das Ergebnis ist gefährlich weit weg von unserer Realität.

Von Luciano Floridi

IT-Technologien nutzen vor allem zwei Methoden, um uns zu identifizieren: über das, was wir im Internet suchen und über das, was wir im Internet teilen. Betrachten wir zuerst einmal die Internetsuche. Als ich vor vielen Jahren zum ersten Mal das Google Headquarter in Mountain View besichtigte, liefen dort auf unzähligen Monitoren in Echtzeit die gerade auf der ganzen Welt am häufigsten gesuchten Begriffe ab. Es war hypnotisierend. Und es machte mir klar, dass wir uns mehr durch das unterscheiden, was wir wollen, als durch das was wir haben. Wir sind wie Schwämme voller Poren und Kanäle, durch die ein ständiger Informationsfluss strömt, der unser geistiges Leben nährt. Jede Suche im Internet erzählt eine Geschichte von Bedürfnissen, Problemen, Schwierigkeiten, Neugierde, Sorgen, Zweifel, Hoffnung oder Befürchtung, Wünschen oder Begierden, von einem Drang, dem man nachgehen muss. Und diese Geschichte wird schnell zu einem identifizierbaren Individuum. Der deutsche Philosoph Ludwig Feuerbach (1804-1872) schrieb einst „Der Mensch ist, was er isst.“ – heute sind wir das, was wir googlen. Über einen längeren Zeitraum gesehen, zeichnen die Suchen im Internet die Konturen unserer Identität. Das gilt auch für jeden Online-Shopping-Vorgang, auf Amazon oder bei Apple, auf Expedia oder TripAdvisor, bei unserem Lieblings-Modeladen oder Supermarkt. 

Dann ist da noch das Teilen. Auf Facebook, auf Twitter und in den sozialen Medien allgemein verbreiten wir hauptsächlich, wir kommunizieren kaum, sodass es keinen Unterschied macht, ob irgendjemand auf der Empfängerseite unsere Information überhaupt liest oder hört. Wir sind wie Radios, die Signale in die hintersten Ecken der Galaxis aussenden, für den Fall, dass es da draußen wirklich noch anderes Leben geben sollte. Auch dieses Teilen verrät, wer wir sind. Wir sind Informationskanäle, was wir übermitteln und  die Art und Weise, wie wir dies tun, offenbart unsere Identitäten. 

Es gibt viele Gründe, warum wir unsere Identitäten so leichtfertig preisgeben. Was die Internetsuche betrifft, so sind wir nicht gewohnt uns als Cluster aus unvollständigen Informationen zu sehen. Und so erkennen wir auch nicht, wie leicht wir durch all unsere Wünsche negativ definiert werden können. Internetsuchen malen kein Bild von, sie meißeln uns, um Michelangelo zu paraphrasieren. Und die Suchmaschinen machen uns glauben, wir würden dabei lediglich etwas finden, was wir benötigen und uns nicht etwa als Individuen mit genau diesen Bedürfnissen präsentieren. Beim Teilen sind unsere Monologe laut vernehmbar und unweigerlich öffentlich. Die Privatsphäre spielt keine Rolle mehr. Es ist vielmehr so, dass eine sendende Quelle das Universum als ihr Publikum behandelt, auf das sich der Gegensatz privat/öffentlich nicht so recht anwenden lässt. Als ob zwei Schauspieler keine Intimsphäre besäßen, nur weil sie in einem Film Sex haben. Falscher Kontext: Natürlich können sie immer noch ein Privatleben haben. Aber auch falscher Ausgangspunkt: Wie verhalten uns wie Stars in einem Film, wo doch unser On-Life (diese immer häufigere Mischung aus Offline- und Online-Leben) unser echtes Leben ist und der Verlust von Privatsphäre doch so konkret. 

Unsere digitalen Technologien sind so konzipiert, dass sie uns diesen Verlust von Privatsphäre erträglich machen. Sie erleichtern, ja sie laden uns sogar zu diesem persönlichen Suchen und Teilen ein – weil sie unsere Daten benötigen, um speziell auf uns zugeschnittene Werbeprofile zu erstellen, über die uns dann Dienstleistungen und Produkte angeboten und verkauft werden sollen. „Know your customers” lautet das Mantra – „Kennen Sie Ihre Kunden?“ – und dieses Wissen wird zusammengetragen, indem man die Menschen erst als Nutzer und dann als Käufer behandelt. Dieses Szenario beinhaltet zumindest einen großen Vorteil, ein großes Risiko und einen möglichen Ausweg. 

Der Vorteil besteht in der Leichtigkeit und Bequemlichkeit. Personalisierung bedeutet, dass die Welt sich an das anpasst, was wir brauchen, wollen, erwarten, befürchten, begehren, hoffen oder wünschen. Es ist nett und verlockend, wenn man den passenden Rabatt zur richtigen Zeit für das richtige Produkt erhält, das wir sowieso kaufen wollten. Und die Empfehlungen auf der Grundlage unserer Interessen sind besser als willkürliche Empfehlungen nach dem Geschmack irgendeiner anderen Person. Das Risiko besteht jedoch darin, dass unsere digitalen Technologien leicht zu definierenden und nicht mehr nur identifizierenden Technologien werden können. Sie könnten neben der Fähigkeit zu erkennen, wer wir sind, auch die Fähigkeit entwickeln, sicherzustellen, dass wir zu der Person werden, die sie uns vorgeben, und dass wir uns nicht mehr ändern. Das liegt daran, dass unsere persönlichen Identitäten so unglaublich formbar sind. Wir können so leicht beeinflusst, gedrängt oder gezogen werden. Wenn das ständig passiert, immer wieder, Jahr um Jahr, dann entsteht zwischen unseren digitalen Profilen und unserem Ich ein gegenseitiges Abhängigkeitsverhältnis. Steter Tropfen höhlt den Stein. Wenn wir in unserer eigenen Identität genau das entwickeln, fördern, eliminieren, unterdrücken usw., was diese Technologien uns vorgeben, werden wir für all das zu selbsterfüllenden Prophezeiungen: eine Leidenschaft für Fußball, eine Antipathie gegenüber bestimmten ethnischen Gruppen, eine Bereitschaft, auf etwas zu verzichten, um ein teureres und besseres Auto zu kaufen, oder die Abneigung dagegen, ein weniger bekanntes Getränk zu probieren… Kein Wunder, wenn unser Verhalten vorhersehbar wird: Wir wurden vorhersehbar gemacht. Und diese Technologien besitzen auch kein Interesse an unser Weiterentwicklung oder Veränderung, im Gegenteil. Sie wollen, dass ein Kunde seine Vorliebe für eine Sache beibehält – oder für etwas, das dieser ähnlich ist. Katzenliebhaber werden höchstens zu Kätzchenliebhabern, nicht zu Hundeliebhabern. Amazons Empfehlungssystem tut nichts weiter, als Vorlieben und Geschmäcker noch stärker und unveränderbarer werden zu lassen, und vorhersehbarer. Das erledigen die „cleveren“ Algorithmen hinter den News von Facebook und Instagram. Unsere Formbarkeit wird ausgenutzt, um uns eine permanente Gestalt zu verleihen und uns daran zu hindern, diese zu verändern. 

Es gibt Wege, diese Situation zu verbessern: ein stärkeres Bewusstsein für die sozialen Auswirkungen unseres Umgangs mit diesen Technologien, mehr Bildung und Achtsamkeit unsererseits. Aber ich vermute, der wirksamste Anreiz bestünde darin, diesen Teufelskreislauf zu durchbrechen, mit dem die digitalen Technologien Monopole erschaffen wollen (das Google-, Facebook-, Snapchat-Monopol – Sie müssen nur das gewünschte Unternehmen einsetzen), mit dem sie den Wettbewerb aushebeln, die Möglichkeiten zur Auswahl reduzieren und Menschen in Benutzerprofile von kostenlosen Diensten in Aktivitätssilos verwandeln. Man müsste folglich Online-Werbung verbieten. Die gesamte Social-Media-Industrie müsste sich dann neu erfinden – als eine Industrie, die auf ein Kundenbeziehungsmanagement aufbaut, deren Kunden über klare Rechte verfügen, mit Unternehmen, die im Wettbewerb um das beste Produkte stehen. Die Währung bestünde in unserem Geld und nicht mehr in unseren persönlichen Daten. Ich bezweifle, dass es je so weit kommen wird, aber es müssen Schritte in diese Richtung unternommen werden. Wir haben diese bei der Zigarettenindustrie, der Pharmaindustrie und der Getränke- und Nahrungsmittelindustrie durchgesetzt. Mit anderen Worten, wir ergreifen sie, sobald unsere körperliche Identität auf dem Spiel steht. Wir sollten damit beginnen, die Werbung auch für die digitale Industrie zu regeln, da jetzt unsere Informationsidentität bedroht ist. Eine werbefreie „Infosphäre“ wäre ein besserer Ort und würde dem seltsamen Dilemma ein Ende bereiten, in dem die Technologien, die uns Möglichkeiten zur Selbstentfaltung bieten, die gleichen Technologien sind, die so wirkungsvoll festlegen können, wer wir sind und sein können.

Über den Autor:

Luciano Floridi ist Professor für Informationsethik und Philosophie der Information an der Universität Oxford, Forschungsleiter des Oxford Internet Institute und Governing Body Fellow des St Cross College. Seine Forschungsgebiete umfassen vor allem die Philosophie der Information, Informations- und Computerethik sowie Technikphilosophie. Zuletzt von ihm erschienen: The Fourth Revolution - How the Infosphere is Reshaping Human Reality, Oxford 2016.

Deutsche Übersetzung: Bernd Weiß
Illustration: Jan Buchczik