Auf die Frage, was der Sturm denn sei, antwortete der expressionistische Dichter und Dramatiker August Stramm: „Der Sturm ist Herwarth Walden“. Doch wer war Herwarth Walden?
Am 03. März 1910 gibt Herwarth Walden die erste Ausgabe seiner Zeitschrift heraus, die sich in den Jahren ihres Bestehens als bedeutendes Forum für die künstlerische und literarische Avantgarde etablieren soll: DER STURM. Der Name war Programm. Ein Wirbel sollte von da an mit Herwarth, seiner Wochenschrift, seiner gleichnamigen Galerie und ihren Künstlern durch den erstarrten Kulturbetrieb und die Bürgerlichkeit des wilhelminischen Deutschlands gehen. Entgegen anderer Kollegen war sich Herwarth Walden von Anfang an bewusst, dass zu dem Aufbruch in eine neue Kunstepoche auch das Ende der Ausklammerung der Frau als Künstlerin gehören musste. So wurde Walden nicht nur zur Schlüsselfigur im STURM-Kosmos, sondern ebenfalls zum Förderer von Künstlerinnen – und war damit Anfang des 20. Jahrhunderts eine Ausnahme in der Kunstwelt.
Doch von vorne: Herwarth Walden wird am 16. September 1878 als Georg Lewin in eine wohlhabende jüdische Familie des Berliner Großbürgertums hineingeboren. Schon früh zeigt sich sein musisches Talent: Er studiert in seiner Jugend Komposition und Klavier, schreibt Prosa und Lyrik und beweist sich als Literatur-, Musik- sowie Kunstkritiker. 1904, mit Mitte zwanzig, gründet Lewin den „Verein für Kunst“, in den er einlädt, wer in Literatur, Musik und Kritik Rang und Namen hat: Seine damalige Ehefrau Else Lasker-Schüler, Alfred Döblin, Maxim Gorki, August Stramm, Heinrich und Thomas Mann lesen hier; Werke von Goethe, Heine, Hofmannsthal und Rilke werden rezitiert, Vorträge gehalten, Gedichte vertont, moderne Tanzaufführungen und Kompositionen von Gustav Mahler, Arnold Schönberg, Richard Strauß sowie Herwarth Walden gespielt. Einakter, beispielsweise „Lydia und Mäxchen“ von Alfred Döblin, erleben außerdem ihre Uraufführung. Die künstlerische Elite findet in dem Verein ein Forum des Austausches unter Gleichgesinnten. In diesen Jahren erhält Lewin von Else Lasker-Schüler auch sein Pseudonym, das später sein offizieller Name wird: Herwarth Walden, angelehnt an Henry Thoreaus „Walden; or, Life in the Woods“.
Gemeinsam mit dem expressionistischen Schriftsteller Döblin begründet Herwarth Walden 1910 den STURM. Über 22 Jahre hinweg wird die Zeitschrift von da an als Sprachrohr der deutschen Avantgarde, insbesondere des Expressionismus’ in Kunst und Literatur, fungieren. 1912 eröffnet Walden zudem seine erste Galerie, die unter anderem Bilder Marc Chagall, Franz Marc, Wasily Kandinsky, Paul Klee, Gabriele Münter, Sonia Delaunay, Else Lasker-Schüler, Marianne von Werefkin und Natalja Gontscharowa ausstellt. Die STURM-Bühne, eine STURM-Kunsthochschule, die aus dem Verein der Kunst hervorgegangenen STURM-Abende mit Lesungen, die STURM-Buchhandlung sowie andere STURM-Aktionen folgen. 1913 initiiert Walden auf 1.200 Quadratmetern zudem die Ausstellung des Ersten Deutschen Herbstsalons als Kontrastveranstaltung der Sonderbundausstellung, die ein Jahr zuvor in Köln die etabliertere Moderne des Impressionismus’ gezeigt hatte.
Anders als andere Gruppen des frühen 20. Jahrhunderts orientiert sich der STURM unter Waldens Leitung in erster Linie an Kunstwerken, nicht an der Herkunft oder dem Geschlecht ihrer Schöpfer. Aus Paris, Wien und Moskau schart er die Künstler ebenso um sich wie aus Berlin oder aus München. Und so ist es auch eine Frau, deren Werke am häufigsten in STURM-Ausstellungen zu sehen waren: die Bilder der niederländischen Malerin Jacoba van Heemskerck. Auf dem zweiten Platz schließt sich die gebürtige Schwedin und zweite Ehefrau Waldens (seit 1912), die Malerin Nell Roslund, an. Bis zur Schließung der STURM-Galerie im Jahr 1932 stellt Walden über 30 Malerinnen und Bildhauerinnen aus – mehr als bei jeder anderen Galerie seiner Epoche. Die Freiheit der Künste und Stile ist die oberste Devise.
Angesichts des aufziehenden Nationalsozialismus’ gerät diese zusehends in Bedrängnis. Der 1918 in die KPD eingetretene Herwarth Walden hatte bereits bei seiner Scheidung von Nell Roslund im Jahr 1924 seiner Exfrau die Kunstsammlung Walden übertragen. 1932, nachdem seine dritte Ehefrau zwei Jahre zuvor an Tuberkulose verstorben ist, siedelt Walden schließlich gemeinsam mit der Übersetzerin Ellen Bork in die Sowjetunion über. So wird das Jahr 1932 ein einschneidendes Jahr – für den STURM sowie für Herwarth Walden.
1932 wird ein einschneidendes Jahr – für den STURM sowie für Herwarth Walden
Mit Waldens Umzug nach Moskau endet der STURM. Die Galerie sowie das Magazin werden aufgelöst. Die Kunstsammlung ist längst Nell Roslund überschrieben, die sie auf der Flucht vor den Nationalsozialisten in die Schweiz retten wird. In seiner neuen Heimat heiratet Walden Ellen Bork und arbeitet als Lehrer sowie Publizist, zieht aufgrund seiner Sympathien für die Avantgarde jedoch schnell das Misstrauen der stalinistischen Regierung auf sich. 1941 wird Herwarth Walden zu Unrecht wegen Verrats inhaftiert. Noch im selben Jahr stirbt er in einem sowjetischen Gefängnis. Während die STURM-Frauen in der Folgezeit aus dem Blickfeld des Publikums verschwanden, zieht nach Abklingen des „Sturms“ der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts auch Nebel über das Ende von Herwarth Walden. Seine Tochter Sina Walden, die zusammen mit ihrer Mutter Zuflucht in der deutschen Botschaft gefunden hatte und nach Berlin zurückgekehrt war, sollte erst 1966 bei einem Besuch in Moskau Auskunft über den Todeszeitpunkt ihres Vaters erhalten.
Herwarth Waldens Eintreten für die Kunst, sein Agieren im Kunstsystem ebenso wie sein Eintreten für Künstlerinnen bleiben dennoch oder gerade deshalb einzigartig. Als Urheber und Leiter all der vielseitigen STURM-Aktivitäten, ob als unpolitischer Streiter für die Moderne oder als Kommunist: wenn sich Herwarth Walden für etwas verschrieb, dann immer leidenschaftlich und absolut. Die Geschichte des STURMS ist nicht zu trennen von der Persönlichkeit seines Initiators, den seine erste Ehefrau Else Lasker-Schüler den „größte[n] Künstler und tiefste[n] Idealist[en], der mir vorgekommen ist“, nannte.