Tag für Tag, über 40 Jahre erzählt Frank King die Geschichte von Walt Wallet und seinem Findelkind Skeezix. Mit "Gasoline Alley" wurde er zu einem der wichtigsten Dokumentaristen der amerikanischen Mittelschicht des 20. Jahrhunderts.
Was für ein überbordendes Werk, was für ein Opus Magnum, was für ein Stück Zeitgeschichte. Dagegen fallen sogar die großen, komplexen Erzählungen unserer Tage, Fernsehserien wie „The Wire“, die „Sopranos“, „Breaking Bad“ oder „Homeland“, weit ab. Die Rede ist von „Gasoline Alley“, einem Comic, der eine Allerweltsfamiliengeschichte erzählt, der das Leben der Durchschnittsamerikaner zum Sujet hat und dabei nicht einmal besonders avantgardistisch ist. Ein Comic, der im Grunde sehr klassisch, sehr sachlich gezeichnet ist – und trotzdem ganz für sich allein steht. Weil er wie wohl kein zweiter den Lauf der Zeit abbildet, sich ihm unterwirft.
Walt Wallet ist ein Autoschrauber, einer, der maßlos fasziniert ist von den neuen Fahrzeugen aus den Werkstätten von Ford und Co., der mit seinen Kumpels fachsimpelt über Ersatzteile und die Leistungskraft von Motoren. Walt Wallet ist die Hauptfigur dieser Geschichte, die „Gasoline Alley“ heißt. Ab 1918 erschien der Comic in der „Chicago Tribune“. Er war zunächst haargenau zugeschnitten auf die Zielgruppe der männlichen Autonarren. Doch dann entwickelte sich aus der relativ eindimensionalen Geschichte über die Autobegeisterung der amerikanischen Mittelschicht ein Familiendrama von epischem Ausmaß.
40 Jahre Leben – erzählt in einem Comic
Vor Wallets Haustür findet sich eines Morgens ein Findelkind. Das Leben des übergewichtigen Junggesellen wirft dieses Kind, das er bald adoptiert und Skeezix nennt, völlig über den Haufen. Es ist der Beginn der sicherlich umfangreichsten Graphic Novel aller Zeiten, lange bevor dieser Begriff überhaupt jemals gebraucht wurde. Mehr als 40 Jahre lang wird der Erfinder von „Gasoline Alley“, der Zeichner Frank King, die Lebensgeschichten von Walt Wallet, seinem Ziehsohn Skeezix und einigen anderen erzählen. Der Comic wird ihn berühmt machen – und unglaublich reich. Mit „Gasoline Alley“ verdient Frank King so viel Geld, dass er es schon bald in den Kreis der Millionäre schafft und er sich in Florida ein pompöses Anwesen bauen kann.
Das Besondere an Kings Werk: Der Zeichner, der bereits 35 Jahre alt war, als „Gasoline Alley“ startete, hat seinen Comic in Echtzeit erzählt. Seine Figuren alterten genauso wie im richtigen Leben. Jedes Jahr feierte Skeezix am 14. Februar (der Tag, an dem er von Walt Wallet vor der Haustür entdeckt wurde) seinen Geburtstag. Täglich – ohne Ausnahme! – lieferte King den Zeitungen eine Episode von „Gasoline Alley“. Unter der Woche und am Samstag waren es kurze Strips in Schwarzweiß, am Sonntag gab es die opulenten und farbigen „full pages“.
Der Comic spiegelt das Leben von Frank Kings Familie
Das Findelkind Skeezix wurde im Lauf der Jahre ein Junge, ein Jugendlicher, ein Mann. Er zog in den Zweiten Weltkrieg, er bekam einen Job, er heiratete. Das reale Leben von King und seiner Familie spiegelt sich in diesen Geschichten. Wenn es die Kings etwa im Sommer in einen der amerikanischen Nationalparks zog, dann machten sich auch Walt Wallet und sein Adoptivsohn auf in das jeweilige Naturparadies. Durch unzählige Fotografien und Filme, die der technikbegeisterte Frank King anfertigte und die sein Familienleben zeigen, konnten die Parallelen zwischen Comicerzählung und realem Leben nachgewiesen werden. Eine Einheit aus Kunst und Leben herzustellen, diesen Traum der modernen Avantgardisten, hat wohl kaum jemand besser gelebt als der durch und durch bürgerliche Zeichner Frank King. Dem nicht immer einfachen Alltag der amerikanischen Mittelschicht setzte er damit ein Denkmal.
In der Ausstellung „Pioniere des Comic“ spielt Frank King eine Sonderrolle. Anders als beispielsweise Lyonel Feininger oder Charles Forbell ging es ihm nie darum, als besonders innovativer Zeichner zu reüssieren. Frank King war keiner, der auf der Suche nach den Grenzen des jungen Mediums Comic war. Trotzdem würde man einen großen Fehler machen, wenn man seinen Stil als frei von Überraschungen oder gar durchschnittlich charakterisieren würde. Vor allem in den 1930er-Jahren schuf King einige Sonntagsstrips, die bis heute zu den herausragenden Werken der Comic-Kunst gezählt werden können.
Ein Meister der Comic-Kunst
Da berichtete er etwa, im November 1930, von einem Besuch von Wallet und Skeezix in einem Museum für moderne Kunst. Während sich die beiden über das Erlebte unterhalten, sieht man sie durch expressionistische und kubistische Bildwelten spazieren. Einen anderen Sonntagscomic schuf King im Stil des Holzschnitts. Am spektakulärsten aber sind seine Geschichten, die den klassischen Bildaufbau der Comics sprengen. Dabei bleibt King dem charakteristischem Panel, also dem durch Linien begrenzten Einzelbild, das Teil einer Bildfolge ist, zwar treu, schafft aber trotzdem etwas Neues, nämlich Bildhintergründe, die sich über die ganze Seite ziehen. Zum Beispiel der Sonntagscomic, der am 24. August 1930 erschienen ist: Eine einzige, die komplette Seite ausfüllende Strandlandschaft ist da zu sehen. Aufgeteilt ist diese Seite jedoch weiterhin in einzelne Panels, in jedem einzelnen davon gibt es eine Szene mit Walt und Skeezix. Gleich dreizehnmal erscheint das Paar so in einem einzigen Hintergrund. Mit genau solchen Zeichnungen hat King eine Bildsprache geschaffen, die auch heute noch unzählige Zeichner prägt.