Bik Van der Pols Videoserie „School of Walking“ zeigt Casablanca aus der Sicht zeitgenössischer Künstler*innen und Kulturschaffender – und eröffnet Einblicke in die Stadt, die westlichen Tourist*innen ansonsten verborgen blieben.

Als ich im Februar Reisepläne für Marokko schmiedete, wurde mir wiederholt geraten, Casablanca außen vor zu lassen. Die Attraktion des Landes – so sagte man mir – seien seine historischen Städte, nicht die modernen; um die Hauptstadt Rabat und das Wirtschaftszentrum Casablanca solle ich besser einen Bogen machen und stattdessen Fès und Marrakesch mit ihren alten, typisch marokkanischen Medinas und Palästen besuchen. Ich machte Rabat dann zu meinem Ausgangspunkt, genoss den dortigen Mix aus alter und neuer Architektur, verbrachte zwei Tage in Fès und legte – entgegen aller Ratschläge – auch einen Tag in Casablanca ein. Ich bin sehr froh, dass ich das gemacht habe.

Michael Curtiz, Casablanca, 1942, Filmstill, Image via telegraph.co.uk

Dr. Georges Burou, Image via independent.co.uk

Vor meinem Besuch verband ich mit Casablanca vor allem zwei Assoziationen. Die erste war Michael Curtiz’ Film von 1942, der bekanntlich weder in der Nähe der Stadt noch unter Beteiligung von Marokkaner*innen gedreht wurde – auch wenn mehrere Restaurants und Bars für sich in Anspruch nehmen, Curtiz inspiriert zu haben, und 2004 das auf dem fiktiven Filmlokal basierende Rick’s Café eröffnet hat. Die zweite Assoziation war für mich als transsexuelle Frau von persönlicherer Natur: Denn Casablanca erlangte internationale Berühmtheit für die Durchführung geschlechtsangleichender Operationen, nachdem Georges Burou in den 1950er-Jahren dort eine Klinik eröffnet und April Ashley, Coccinelle, Jan Morris und andere operiert hatte. Doch Burou und seine Klientinnen sind längst verschwunden, und Curtiz war nie dort. Inzwischen lockt Casablanca weniger westliche Besucher*innen an, gerade wegen seines europäischen Erscheinungsbildes. Stadtgrundriss und Zentrum wurden während der französischen Kolonialzeit geplant und erbaut, in der Casablanca als wichtigster Hafen des Landes diente – sowie als weißes Blatt für zahlreiche moderne Architekten, die an die bestehende Stadt des 19. Jahrhunderts an- und diese überbauten.

Casablanca Art School. Eine postkoloniale Avantgarde 1962–1987, Installationsansicht Bik Van der Pol "School of Walking" in der Rotunde, © Schirn Kunsthalle Frankfurt 2024, Foto: Norbert Miguletz

Bik Van der Pol, School of Walking, Filmstill, Image via schoolofcasablanca.com

Seit Erlangung der Unabhängigkeit Marokkos 1956 haben seine Bürger*innen das französische Erbe umfassend bereichert und Geschichten vom antikolonialen Kampf ins 21. Jahrhundert getragen – wie die Videoserie „School of Walking“ bezeugt, in der das Künstler*innenduo Bik Van der Pol verschiedene Stadtführungen (oder „dérives“, wie sie im situationistischen Jargon heißen) dokumentiert. Für die drei Videoarbeiten, die noch bis zum 12. Oktober in der öffentlich zugänglichen SCHIRN-Rotunde zu sehen sind, haben Bik Van der Pol mit zeitgenössischen Künstler*innen und Kulturschaffenden zusammengearbeitet. Diese zeichnen das Bild Casablancas als einer modernen Stadt und eines kreativen Zentrums, in dem die Künstler*innengeneration der 1960er- und 1970er-Jahre ihre Träume von einer gemeinsamen Zukunft umsetzte.

Die Architekturgeschichte Casablancas

Der Architekt Imad Dahmani ist Mitbegründer der Organisation MAMMA, die sich der marokkanischen Architektur, Kunst und Stadtplanung widmet. Seine Stadtführung bringt uns direkt ins Herz der französischen Kolonialstadt: Dahmanis Rundgang beginnt an der Place Mohammed V, wo der Stadtplaner Henri Prost – er war von dem Militärgouverneur Hubert Lyautey mit dem Masterplan für das neue Casablanca betraut worden – die städtischen Verwaltungsbauten bündelte. Für das Rathaus, das Gerichtsgebäude, das Postamt und die Zentralbank wählten die Architekten einen neomarokkanischen Stil und bezogen traditionelle Elemente wie etwa in der Medina der Stadt aufgefundene Keramikfliesen in ihre modernistische Architektur mit ein. Neben weiteren Meisterwerken macht Dahmani auch auf das von Marius Boyer entworfene Wilaya-Gebäude (1928–1939) aufmerksam: Einst als Hôtel de ville (Rathaus) geplant, dient es heute als Sitz der Regionalregierung, das traditionelle nordafrikanische Gestaltungsprinzipien mit einem Flachdach und einem modernen Uhrenturm verbindet. Die zentrale Ansammlung institutioneller Gebäude, in der nach 1956 eine Folge von Verwaltungsdirektionen Einzug hielt, entfaltet eine wichtige Gesamtwirkung – sie gibt Stadt und Land die Anmutung einer modernen Wirtschaftsmacht, wohingegen Rabat, die offizielle Hauptstadt Marokkos, kleiner und traditioneller blieb und somit auch attraktiver für Tourist*innen.

Casablanca Art School. Eine postkoloniale Avantgarde 1962–1987, Installationsansicht Bik Van der Pol "School of Walking" in der Rotunde, © Schirn Kunsthalle Frankfurt 2024, Foto: Norbert Miguletz

Place Mohammed V, 2014, Foto: Rigelus, Image via wikipedia.org

Die ehemalige katholische Église du Sacré-Cœur in Casablanca © Mitzo / Shutterstock, Image via easyvoyage.com

Opernhaus in Casablanca, entworfen von Christian de Portzamparc, image via jet-contractors.com

Die Frage, auf welche Weise sich an das koloniale Vermächtnis rund um die Place Mohammed V anknüpfen ließe, ist eine virulente: Zu Beginn des Rundgangs am Park der Arabischen Liga, der 1913 noch als Parc Lyautey eröffnet wurde, sehen wir die phänomenale, von Paul Tournon im Art-déco-Stil entworfene und 1930 eingeweihte Église du Sacré-Cœur. Sie dient seit der Vertreibung der französischen Kolonialherren als Kulturzentrum, doch hören wir weiter nichts über sie. Stattdessen erkundet Dahmani das ihr gegenüberliegende Opernhaus, erbaut von dem französischen Architekten Christian de Portzamparc, der 2012 als Sieger aus einem internationalen Wettbewerb hervorgegangen war. Ich wünschte, Dahmani hätte mich während meines Aufenthalts in Casablanca herumgeführt: Denn die Gebäude zu betrachten war das eine, doch hätte ich gerne mehr über die rigorose Weise gewusst, in der die planerische Gestaltung der Stadt vorgenommen wurde. Vor allem war es faszinierend zu erfahren, dass die Vorstellung von der Place Mohammed V so fest in den Köpfen der Bewohner*innen verankert war, dass die Versetzung des Opernbrunnens durch de Portzamparc an die gegenüberliegende Seite des Platzes als Beeinträchtigung der ursprünglichen Platzanlage empfunden wurde – dabei war der Brunnen erst in den 1980er-Jahren erbaut worden.

Dahmani geht auch näher auf einen Umstand ein, der sich bei der Ankunft in Casablanca unschwer erschließt: Prost hatte sich bewusst für eine Trennung der mittelalterlichen und der modernen Stadt entschieden, indem er einen weiteren Platz, den Place de France (heute Platz der Vereinten Nationen), anlegen ließ, um die alte Medina gegenüber der französischen Neustadt abzugrenzen. Dahmani nimmt sein Publikum mit zum Boulevard Hassan II und zum Boulevard Mohammed V und stellt verschiedene Bauwerke der Moderne, des Art déco und des Brutalismus vor – sie sind allesamt weiß, drei- oder viergeschossig, weisen innerhalb dieser Parameter jedoch eine außergewöhnliche architektonische Vielfalt auf. Von besonderem Interesse sind die Kinobauten: Casablanca war berühmt für seine Kinos, zu Hochzeiten 300 an der Zahl – da ist es nur angemessen, dass Curtiz die Stadt auf so denkwürdige Weise in die Filmgeschichte eingehen ließ. Der bemerkenswerteste Neubau seit Erlangung der Unabhängigkeit spiegelt den verschobenen Schwerpunkt unter Fortführung des französischen Einflusses wider: Die Hassan-II.-Moschee wurde 1993 von dem Architekten Michel Pinseau fertiggestellt und unweit der Medina, direkt am Meer, von marokkanischen Bauhandwerkern errichtet.

Einblicke in traditionelle Straßenkunst und Alltagskultur

Nabil Qerjij erzählt hingegen eine Bottom-up-Geschichte und führt vor Augen, dass die Stadtlandschaft Casablancas eine riesige Leinwand für Graffitikünstler*innen wie ihn darstellt. Er verweist auf die lange Tradition dieser Kunstform, erzählt von Ahmed Bouananis Reisefilm „6 et 12“ (1968), in dem Tags an einer Wand zu sehen sind, und davon, dass Künstler*innen aus den Vereinigten Staaten oder der Ukraine anreisen, um ihre Namen der Stadt einzuschreiben. Auch beklagt er die kommerzielle Vereinnahmung dieser Kultur in Form eines Street-Art-Festivals, das weder einheimische Graffitikünstler*innen zur Teilnahme einlade noch Workshops bei Gastkünstler*innen für sie anbiete. So werde „die Vorstellung befördert, dass man eine Genehmigung und gute technische Fähigkeiten benötigt“, erklärt Qerjij seinem Publikum, „und das erstickt doch die Demokratisierung des Ausdrucks“.

Hassan-II.-Moschee, fertiggestellt von Michael Pinseau, 2014, image via tripadvisor.de

Street Art von Machima, 2020, image via wecasablanca.com

Der Strand von Mohammedia, Image via barcelo.com

Der demokratische Ausdruck spielt auch eine zentrale Rolle in der Videoarbeit von Maria Daïf. Sie geht darin am Strand entlang und erzählt davon, dass Männer Fußball spielen und Frauen beten und dass die Schließung des Strandes während der Covid-19-Pandemie deutlich gemacht habe, wie wichtig er für die Lebendigkeit Casablancas sei. Beim Ansehen wünschte ich mir, ich hätte länger bleiben und mehr entdecken können. So war mir nur ein halber Tag in der Stadt geblieben: Ursprünglich hatte ich gehofft, am Abend Raja AC, einen der größten Vereine Afrikas und gleichfalls ein Produkt des Widerstands, spielen zu sehen, doch war das Stade Mohammed V – das älteste Stadion Marokkos – wegen Renovierungsarbeiten geschlossen. Stattdessen fuhr ich nach Mohammedia, einer 1914 von den Franzosen unweit entfernt gegründeten Hafenstadt, zum Spiel von Chabab Mohammedia gegen AS FAR aus Rabat. Dort sah ich, wie eine weniger gut erhaltene Version von Casablanca aussehen könnte: Wohin ich auch blickte, blätterte die Farbe von bröckelnden Betonbauten ab. Dennoch war ich froh, die Ratschläge ignoriert und Casablanca besucht zu haben. Und ich hoffe, dorthin zurückzukehren – vor allem auch deshalb, weil ich nun mehr über die Geschichten der Stadt erfahren habe, die einem Großteil der westlichen Tourist*innen verborgen bleiben.

CASA­BLANCA ART SCHOOL. EINE POST­KO­LO­NIALE AVANT­GARDE 1962–1987

12. JULI – 13. OKTO­BER 2024

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