Der aktuelle SCHIRN BOOKCLUB versammelt Literatur, durch die der Entstehungskontext der CASABLANCA ART SCHOOL greifbar wird. Was war der Zeitgeist, durch den die Kunsthochschule ihre bunten Farben und scharfsinnig, eindringlichen Formen kristallisierte?

Casablanca in den 1960er-Jahren: Der Ort und Zeitpunkt, an dem sich die Casablanca Art School gründete. Eine Bewegung, die sich zwischen der zurückgewonnenen Unabhängigkeit Marokkos, seinen Kulturen und Traditionen sowie auch internationalen Einflüssen entwickelte. Beschäftigen wir uns etwas genauer mit der Casablanca Art School, wird schnell klar, dass ihre Umgebungsbedingungen sowohl für ihre Werke als auch für ihre Arbeits- und Ausstellungsweisen maßgeblich waren. Wie hat also der Zeitgeist ausgesehen, durch den die Casablanca Art School ihre bunten Farben und scharfsinnig, eindringlichen Formen kristallisierte? Literatur ist das Fenster, durch das wir schauen können, um der Antwort auf diese Frage ein wenig näher zu kommen.

Foto: Norbert Miguletz

Amal El Ommali, Foto: Lewis Soulier, Image via storiesofcolor-ffm.de

Im SCHIRN BOOKCLUB widmen wir uns an drei Abenden der Literatur, die in direktem Bezug zur Casablanca Art School steht oder über drei Ecken mit ihr verbunden ist. Die Texte, mal Romanauszug oder Gedicht, mal Essay oder Bericht, sind in einem kleinen Reader zusammengefasst. Das bunte Büchlein begleitet uns durch den Sommer. Es umfasst Perspektiven junger Künstler*innen im Marokko der 1960er-Jahre, arabische Poesie, die wie die Bildende Kunst kulturelles Erbe mit modernen Einflüssen verwebt sowie Gedanken zur Kunst im öffentlichen Raum und Alltag.

1. Sitzung: Widerstand in politischen Umbruchszeiten

In einem entsprechenden Text konstatiert Sarah Dornhof: „Art in public space is deeply inscribed in popular Moroccan culture [...]." (dt.: „Kunst im öffentlichen Raum ist tief in der marokkanischen Kultur verwurzelt [...].") Das spielt auch für die jungen Künstler*innen in Casablanca eine wichtige Rolle, die sich in ihren Werken oft auf traditionelle Muster beziehen und ihre Kunst zunächst auf öffentlichen Plätzen ausstellen. Damit bahnen sie sich ihren Weg direkt zur Bevölkerung und die Betrachter*innen finden über bekannte Stilmittel einen Zugang zur aktiven Kunstszene. Amal El Ommali (Tamazight-Aktivistin) und Badia Ouahi (Geschäftsführerin Badia's Kitchens) stellten als Gästinnen der ersten Sitzung klar, dass sich die Kunst der Casablanca Art School sowohl ästhetisch als auch kulturell in die Stimmungen und Kulturen des Landes eingebettet habe. Die Künstler*innen setzten sich mit ihren Werken, Arbeitsweisen und modernen Lehrmethoden aktiv für das Überleben und Wertschätzen der eigenen Kultur ein, in der ein gemeinschaftliches und niedrigschwelliges Kreieren und Betrachten im Vordergrund steht: Gewissermaßen praktizierten sie eine Art Aktivismus, der während des Kolonialismus nicht möglich war.

In den Jahren nach der Unabhängig wird die Frage nach den eigenen kulturellen Wurzeln in der marokkanischen Bevölkerung deutlicher, so schreibt auch Leïla Slimani in ihrem Roman „Schaut wie wir tanzen“ (2022): „Wann wird man begreifen, dass wir unsere eigene Persönlichkeit entwickeln, unsere eigene Kultur kennenlernen, unser Schicksal wieder selbst in die Hand nehmen müssen?" Inspiriert von ihrer eigenen Familiengeschichte, stellt die marokkanisch-französische Autorin damit die Situation dar, in der sich vor allem die jungen Generationen in Marokko nach der Unabhängigkeit wiederfanden. Der im BOOKCLUB verwendete Textauszug aus ihrem Roman zeigt, wie der Alltag durch westliche Kultur geprägt wird und eigene Identitäten verdrängt: „Wir tragen eure Kleidung, wir hören eure Musik, wir sehen eure Filme", so Slimani. Die Auseinandersetzung mit Identität passiert auf intellektueller und politischer Ebene. Gleichzeitig verlangt diese Zeit politischen Umbruchs aber auch einen Rausch, eine Schwerelosigkeit. Slimani findet dies im Tanzen – wobei sie Clubs als Zeichen von Widerstand und Selbstermächtigung begreift, da Marokkaner*innen nur fünfzehn Jahre zuvor noch der Zutritt zu jenen Nachtclubs verwehrt worden sei.

Leïla Slimani - 2020 © Philippe Matsas / Stock; Image via bnf.fr

Casablanca Art School. Eine postkoloniale Avantgarde 1962–1987, Ausstellungsansicht, © Schirn Kunsthalle Frankfurt 2024, Foto: Norbert Miguletz
2. Sitzung: Die Wertschätzung marokkanischer Poesie

Im BOOKCLUB möchten wir Literatur in das Gespräch über Kunst oder Kunst in das Gespräch über Literatur einbeziehen...So klar lässt sich das nicht trennen. Die Künstler*innen der Casablanca Art School verbanden ihre Kunst ganz konkret mit Text und Schrift. Ob mit der Gestaltung von Postern und Flyern oder mit dem Herausbringen der Zeitschriften „Intégral: revue de création plastique et littéraire" und „Souffles". Letztere wurde von dem marokkanischen Dichter Abdellatif Laâbi gegründet, dessen Gedicht „Doldrums" die Sitzung zu arabischer Poesie (11.09.) einleitet. „Arabische Poesie“ meint hier nicht eine Kategorie, in die sich auf Arabisch verfasste Lyrik eingrenzen lässt (nicht umsonst betont etwa der Dichter Mohammed Bennis in „Das Gedicht und die Stille" (2007), sein Text könne nicht in eine Orient- oder Okzidentkategorie eingeordnet werden).  Der Begriff geht auch über das einfache Narrativ hinaus, dass die arabische Sprache metaphorischer sei als beispielsweise die deutsche Sprache. Werden die Gedichte primär mit derlei Annahmen und Kategorisierungsansätzen gelesen, verbauen wir uns einen Zugang auf die Vielschichtigkeit der arabischen Poesie.

Mit „An Introduction to Popular Moroccan Poetry" (1966) von Ahmed Bouanani werden wir in der zweiten Sitzung einen ersten Einblick in die unermessliche Vielfalt der marokkanischen Literaturgeschichte erhaschen können, die auch die marokkanische Kunstszene in den 1960er-Jahren beeinflusste. Er schreibt: „Morocco's oral literary tradition is extraordinary lively and unbroken. Handed down since time immemorial, it has been enriched by generation after generation and by its contacts with […] great many civilizations." (dt.: „Die mündliche Überlieferung von marokkanischer Literatur ist besonders lebendig und lückenlos. Sie wird seit Menschengedenken überliefert und wurde von Generation zu Generation und durch den Kontakt mit [...] diversen Kulturen bereichert.“)

Die Folgen des Kolonialismus für die kulturellen, materiellen und immateriellen Güter sind nach wie vor tiefgreifend. Das Ausklammern und Abwerten von bestimmtem kulturellem Erbe auf nationaler und globaler Ebene ist eine von ihnen. Bouanani beobachtet, dass jene Tradition bislang auch nur in wenigen wissenschaftlichen Publikationen untersucht wurde. Fehlende Perspektiven, Praxis und Wertschätzung von Kulturen führen zum Vergessen. Als Schreibende von lyrischer Prosa möchte ich Bennis glauben, wenn er in seinem zuvor erwähnten Gedicht schreibt: vielleicht „wird das Gedicht zum Dialog." Auf jeden Fall wird es das in der zweiten BOOKCLUB Sitzung, in der uns die Spoken Word Künstlerin und Aktivistin Amira Zarari begleitet.

Ahmed Bouanani. FAMILLE BOUANANI, Image via lemonde.fr

Amira Zarari, image via oyoun.de

Wandgemälde von Mohammed Chabâa, Asilah-Kulturfestival, Asilah, Marokko, 1978, Foto: Mohamed Melehi / Mohamed Melehi Estate
3. Sitzung: Gemeinschaftsstreben in der Kunst

Die Künstler*innen der Casablanca Art School zeigten ihre Arbeiten ab 1969 regelmäßig in öffentlichen (Stadt-)Räumen. 1978 folgte mit dem ersten „Moussem of Asilah“ ein Festival, bei dem sie Murals in kräftigen Farben und großen Formen zusammen mit den Anwohner*innen verwirklichten. Eine gute Strategie, um dem Verblassen der eigenen kulturellen Identität durch koloniale Einflüsse entgegenzuwirken, oder wie Sarah Dornhof 2022 von einem historischen Flyer der Casablanca Art School zitiert: „To emphasize the role of culture in the evolution of civilization" (dt.: „Um die Rolle der Kultur in der Zivilisationsentwicklung hervorzuheben.“). Damit bauten sie in Marokko auf einer langen Geschichte gemeinschaftlicher Kunst im Alltag und in der Öffentlichkeit auf. Die Offenbacher Street-Art Künstlerin Thekra Jaziri teilt einen ähnlichen integrativen Ansatz und gestaltete das Cover der diesmaligen BOOKCLUB-Ausgabe. Ihre Murals entstehen oft bei Workshops, sowohl mit Erwachsenen als auch mit Kindern. In der dritten Sitzung ist sie Anfang Oktober zu Gast und gibt uns einen zeitgenössischen Blick auf das künstlerische Arbeiten in öffentlichen Räumen.

Der Entstehungsort, die Zeit und Umgebungsbedingungen der Casablanca Art School sind bekannt. Doch hinter „Casablanca in den 1960er-Jahren“ steckt eine Vielseitigkeit, die wir nur versuchen können, nachzuvollziehen – aus Erzählungen von Familienmitgliedern oder eben über Geschichten und Gedichte. Welcher Zugang uns zu dem Zeitgeist und den daraus entstandenen literarischen und künstlerischen Werken offensteht, ist abhängig von den Perspektiven, die wir einnehmen oder vermittelt bekommen. So können die dekolonialen, kollektiven und internationalen Prägungen der Kunstbewegung genauer erkannt werden, je intensiver wir uns mit ihnen persönlich oder gesellschaftlich auseinandersetzen. Die partizipative Arbeitsweise der Casablanca Art School inspiriert dazu, auch im BOOKCLUB mit Wertschätzung und Offenheit über Kunst und Literatur in einen Austausch zu treten.

Thekra Jaziri, © Jörg muthorst/opg, image via fr.de

CASA­BLANCA ART SCHOOL. EINE POST­KO­LO­NIALE AVANT­GARDE 1962–1987

12. JULI – 13. OKTO­BER 2024

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