Die Zeitschrift „Souffles“, an der viele Lehrende der CASABLANCA ART SCHOOL mitwirkten, ist ein außergewöhnliches Beispiel für die tiefgreifende Wechselbeziehung zwischen moderner arabischer Kunst und Publizistik. Doch sie war längst nicht die einzige Zeitschrift ihrer Zeit, auf die das zutraf.

Mohamed Melehi hatte während seiner Studienjahre im Europa der 50er- und 60er-Jahre nicht nur eine Begeisterung für das Bauhaus entwickelt, ihn faszinierte auch eine kollektive Praxis, die junge Künstler*innen im linksprogressiven Milieu als einen Teil ihres Selbstverständnisses begriffen: Das Gründen von Zeitschriften. Was diese Zeitschriften auszeichnete, war ihr transgressiver Charakter: sie brachten Architekt*innen mit Maler*innen und Poet*innen sowie Bildhauer*innen zusammen; und sie verschränkten Ästhetik und Theorie eng und untrennbar miteinander. Melehi begleitete bald der Wunsch, eines Tages selbst eine Zeitschrift zu gründen. 1965 – er war seit kaum einem halben Jahr Dozent an der Casablanca Art School – bot sich ihm eine Chance, die er ergriff: Auf einer Ausstellung seiner Werke in Rabat sprach ihn der junge Dichter Abdellatif Laâbi an: ob er sich vorstellen könne, das Titelblatt für eine neue Zeitschrift zu entwerfen. Melehi überlegte nicht lange: „Als ich das Wort ‚Zeitschrift‘ hörte, stellten sich meine Ohren auf! Ich sagte sofort: Ja, ich habe Interesse. Aber Sie zahlen mir nichts, lassen Sie mich stattdessen bei diesem Unternehmen mitmachen.“ (1).

Souffles 1, 1966, Image via monoskop.org

Aus Augenblicken wie diesem setzen sich Gründungsmomente von Zeitschriften zusammen. Die erste Ausgabe erschien im März 1966; auf dem von Melehi gestalteten Titelblatt prangt der ikonische, an den Rändern poröse Kreis: ein Atemhauch auf kalter Scheibe. „Souffles“ (Atemzüge, 1966-1973) war vom ersten Atemzug an eine Kampfansage an Frankreichs „mission civilisatrice" (zivilisatorische Mission) und ihren postkolonialen Schatten, aber auch an eine nationale Kulturpolitik, die in Exotismus und Folklorismus verknöcherte. Was die Redaktion aus Literat*innen, bildenden Künstler*innen, Kritiker*innen und Filmemacher*innen anstrebte, war die Verwirklichung einer marokkanischen Moderne in allen Bereichen der Nationalkultur. Anders als die im selben Jahr gegründete, „weitaus zahmere“ Literaturzeitschrift „Lamalif“ (2), proklamiert „Souffles“ ganz im Sinne der zeitgleich stattfindenden Proteste auf Marokkos Straßen die „décolonisation culturelle" (kulturelle Dekolonisierung) der jungen Nation.

„Souffles“ – Atelier und Galerie zugleich

Nach nur wenigen Ausgaben traten die Künstler*innen aus Casablanca aus dem Schatten der wortstarken Literat*innen: Zwischen 1967 und 1971 prägten sie maßgeblich Diskurs und Form der Zeitschrift und definierten – so weitreichend wie in bis dato keiner anderen Zeitschrift der arabischen Welt – die Beziehung dieses Mediums zur bildenden Kunst neu. 

„Souffles“ war, in den Worten Katarzyna Pieprzaks, ein „diskursives Museum“, in dem die Politik zum Objekt der Kunst und die Kunst zum Objekt der Politik wurde (3). Kalligrafie und Posterkunst wurden hier zu Paradeformen einer so modernen wie revolutionären Kunst, die nicht Kunstkenner*innen, sondern das Massenpublikum adressierten (4). Für die Künstler*innen aus Casablanca war die Zeitschrift Atelier und Galerie zugleich. Sie war ein Transportmittel, das ihnen erlaubte, einen von Europa dominierten Kunstmarkt zu subvertieren und alternative Netzwerke im Globalen Süden zu knüpfen. Und sie war eine öffentliche Bühne, auf der sie in ihrer Rolle als Intellektuelle in die gesellschaftlichen Debatten ihrer Zeit eingriffen. Nur eines war „Souffles“ sicher nicht: eine Künstler*innenzeitschrift, die ihre Hoheit im Feld der Kunst allein beanspruchte.

Casablanca Art School. Eine postkoloniale Avantgarde 1962–1987, Ausstellungsansicht, © Schirn Kunsthalle Frankfurt 2024, Foto: Norbert Miguletz

Komposition mit den Covern der Souffles Magazine (1966-1971), Image via museoreinasofia.es

Casablanca Art School. Eine postkoloniale Avantgarde 1962–1987, Ausstellungsansicht, © Schirn Kunsthalle Frankfurt 2024, Foto: Norbert Miguletz

Vielmehr ist sie ein außergewöhnliches Beispiel für die tiefe Wechselbeziehung zwischen moderner arabischer Kunst und Publizistik, wobei sie bei weitem nicht die einzige Zeitschrift ihrer Zeit war, auf die diese Punkte zutrafen. Die 60er-Jahre waren ein aufgeheiztes Jahrzehnt in Nordafrika und dem Nahen Osten, in dem sich der Ton der revolutionären Emanzipationsrhetorik verschärfte. Die ‚Dritte Welt‘ wurde zur solidarischen Klammer der ehemaligen Kolonialstaaten Afrikas, Asiens und Lateinamerikas. Der sozialistisch orientierte arabische Nationalismus, dem Ägyptens Präsident Gamal Abdel Nasser ein charismatisches Gesicht gab, elektrisierte eine transarabische Generation. Nach dem für die arabischen Staaten desaströsen Sechstagekrieg 1967 übernahm der palästinensische Widerstandskampf diese Führungsrolle, den auch „Souffles“-Redakteur*innen mit Wort und Tat unterstützten.

Arabische Zeitschriften zwischen Literatur und Kunst

Auch in anderen intellektuellen Zentren der arabischen Welt, wie Beirut oder Bagdad, rückten Literatur und bildende Künste theoretisch und praktisch näher zusammen: in Salons, Galerien und vor allem in den Zeitschriftenredaktionen waren enge Kollaborationen keine Ausnahme mehr. 

Eine von ihnen war die von dem syrischen Dichter Adunis gegründete, „Souffles“ politisch nahestehende Beiruter Zeitschrift „Mawaqif“ (Positionen, 1968-1994), in der bildende Künstler*innen wie der palästinensische Maler Kamal Boullata, die jordanische Bildhauerin Mona Saudi und der libanesische Maler Samir Sayegh prominent mitwirkten (5). Aber auch dort, wo liberale Werte und Autonomieästhetik verteidigt wurden und der Westen kein reines Feindbild darstellte, intensivierten sich die Beziehungen: Die Redaktionstreffen der Poesiezeitschrift „Shi’r“ (Dichtung, 1957-1970) brachten moderne Dichter*innen und Maler*innen Beiruts zusammen; und „Hiwar“ (Dialog, 1962-1967), ebenfalls publiziert in Beirut, gab erstmals der modernen Kunst einen gleichwertigen Platz neben dem literarischen Text, anstatt sie, wie bislang, als Illustration zu behandeln (6).

Mawaqif 1, 1968, Image via eurozine.com

Casablanca Art School. Eine postkoloniale Avantgarde 1962–1987, Ausstellungsansicht, © Schirn Kunsthalle Frankfurt 2024, Foto: Norbert Miguletz

Im Zuge des Kalten Kriegs wurde die Frage, welche Rolle die Künste für den Fortschritt der arabischen Gesellschaften spielten, zu einer ideologischen Standortbestimmung. Doch die Frage selbst war keineswegs neu und hatte von Anfang an in Zeitschriften stattgefunden. Ab dem späten 19. Jahrhundert wurde in Magazinen wie der ägyptischen „al-Muqtataf“ (Die Auslese, 1887-1952) diskutiert, wie sich Europas ‚schöne Künste‘ und deren Verfahren und Formen wie die Ölmalerei, das Porträt, die Skulptur, später die Fotografie, der Film, die abstrakte Kunst in Einklang mit den eigenen ästhetischen Traditionen bringen ließen (7). Die arabischen Leser*innen sollten nicht nur mit moderner Technik und neuen literarischen Formen wie dem Roman bekanntgemacht werden – sie sollten in den Zeitschriften auch ein modernes Sehen erlernen (8).

Das Ende von „Souffles“

Künstlerische Avantgarden und intellektuelle Zeitschriften gleichen sich in vielerlei Hinsicht: So häufig wie beide mit einem starken Gruppenethos beginnen, so häufig münden sie in Verwerfungen, Brüchen und Trennungen. Auch „Souffles“ ist keine Ausnahme.

Ab 1971 gründete sich ihre arabische Schwesterzeitschrift „Anfas“ mit einer eigenständigen Redaktion und einem Schwerpunkt auf politischen und sozialen Themen der arabischen Welt. Auch die französische Ausgabe änderte sich grundlegend mit Beitritt von Abraham Serfaty, unter dessen Mitwirkung „Souffles“ zur Publikationsplattform für Marokkos marxistisch-leninistische Opposition wurde. Diese Entwicklung führte schließlich zu „Souffles/Anfas“ erzwungenem Ende: Im Januar 1972 wurden Laâbi und Serfaty zu mehreren Jahren Haftstrafe verurteilt. Die gewaltsame Unterdrückung und Verfolgung der linken politischen Opposition unter König Hassan II. zwischen den 60er- und 80er-Jahren erreichte in diesen Jahren ihren Höhepunkt.  Mit Ausnahme von Chabâa hatten Casablancas Künstler*innen bereits ein Jahr früher – als sich abzeichnete, dass Kunst und Literatur von nun an in „Souffles“ auf einen Nebenschauplatz verwiesen wurden – die Redaktion verlassen. Ihr ursprüngliches Anliegen führten Melehi und der Dichter Mostafa Nissabouri ab 1971 in einer neuen Zeitschrift weiter: „Intégral“ (1971-1977) machte auf dem Titel ihrer ersten Ausgabe – es war die wellenförmige Graphik, die Melehi 1969 für die Palästina-Ausgabe beigesteuert hatte – deutlich, dass sie an ein einst gemeinsames Projekt anknüpfte, von dem sich „Souffles“ endgültig entfernt hatte. Wie viele Zeitschriften dieser arabischen Generation war sie das Werk einer außergewöhnlichen Künstler*innenfreundschaft gewesen, aber auch das Dokument ihrer Entfremdung.

Cover des Magazins Intégral, n°1, Oktober 1971. Design von Mohamed Melehi. Mohamed Melehi Estate., image via qm.org.qa

CASA­BLANCA ART SCHOOL. EINE POST­KO­LO­NIALE AVANT­GARDE 1962–1987

12. JULI – 13. OKTO­BER 2024

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