Die CASABLANCA ART SCHOOL revolutionierte die marokkanische Kunstwelt und schaffte es, sich von der französischen Kolonialvergangenheit zu befreien. Dabei diente das Bauhaus in mancherlei Hinsicht als Vorbild. Doch was haben die Schule und das Bauhaus gemeinsam?
Im Jahr 1919 wird die Kunsthochschule „École Municipale des Beaux-Arts“ in Casablanca unter französischer Besatzung gegründet – der Lehrplan entspricht europäischen Vorstellungen: Es gibt ein starkes Gefälle zwischen der Kultur Europas und den Stilrichtungen des Globalen Südens. Künste aus Marokko werden als „dekorativ“, „folkloristisch“ und „minderwertig“ angesehen. Zudem wird die „freie“ Kunst gegenüber der „angewandten“ Kunst bevorzugt.
Doch mit der Unabhängigkeit Marokkos wird die Schule Anfang der 1960er-Jahre von jungen Künstler*innen reformiert. Der Künstler Farid Belkahia wird 1962 zum neuen Direktor ernannt. Ihm folgen die Lehrenden Mohamed Melehi, Toni Maraini, Bert Flint und Mohammed Chabâa. Sie alle sind mit dem westlichen Kanon vertraut, bereisten und studierten in den Vereinigten Staaten oder Europa. Auch mit dem neuen Titel „Casablanca Art School“ wird die gemeinsame Vision deutlich, eine internationale, entkolonialisierte und demokratische Hochschulstruktur und -kultur zu etablieren.
EIGENE BILDSPRACHE UND ENTKOLONISIERUNG
Gerade nach der französischen Besatzung müssen die nationale Identität und das Selbstbewusstsein des eigenen kulturellen Erbes gestärkt werden. Daher suchen die Lehrenden nach lokalen und selbstbestimmten Ausdrucksformen und erklären das ikonographische Erbe Marokkos zum Bestandteil des neuen Programms. So finden regelmäßig Exkursionen zu historischen Stätten statt, um mehr über traditionelle städtische und ländliche Architektur sowie Kunst und Handwerk zu erfahren. Lehrende wie Mohamed Chabâa beschäftigen sich mit der arabischen Kalligrafie und kombinieren sie mit Malerei und Kunsthandwerk. Der Studiengang Kunstgeschichte widmet sich unter der Leitung von Toni Maraini erstmals in Marokko auch der Kunstproduktion im eigenen Land und außerhalb des westlichen Kanons. Von nun an soll nicht mehr ein barocker Stuhl oder eine gotische Kirche aus Frankreich das Vorbild sein, sondern Quellen aus der Region. Die Schule sucht Inspiration in der eigenen lokalen Vergangenheit und entwickelt einen offenen, leichten und poetischen Umgang mit der eigenen Geschichte.
Das umfassende Forschungsprojekt bauhaus imaginista widmet sich von 2018-2020 der Rezeptionsgeschichte des Bauhaus und zeigt, dass seine Einflüsse bis zur Casablanca Art School reichen. Denn obwohl die Kunsthochschule in Casablanca eine ganz eigene politische Agenda verfolgt, werden Aspekte aus der Lehre am Bauhaus übernommen: Die eigene stilistische Vergangenheit dient einer Art Quelle, die anregt und vor allem moderne Gestaltungsweisen eröffnet. Eine ähnliche, wenngleich weniger aufs Lokale bedachte, Herangehensweise prägte auch das Bauhaus. Beispielsweise verarbeitete der Bauhaus-Meister Paul Klee 1927 einen ländlichen Knüpfteppich aus dem arabischen Raum. Er stellte das historische Textil auf seine Weise dar und verband das Altertümliche mit seiner abstrakten Formensprache.
DIE CASABLANCA ART SCHOOL UND DAS BAUHAUS
Bereits das Gründungsmanifest des Bauhaus von 1919 veranschaulicht mit dem Holzschnitt einer Kathedrale von Lyonel Feininger das Ideal einer mittelalterlichen Bauhütte, in der zahlreiche Gewerke unter einem Dach vereint sein sollten. Dargestellt ist diese Idee allerdings in expressionistischer Manier, kantig und grob geschnitzt. Statt der expressionistischen Formensprache und der aufgeladenen, fast religiösen Rhetorik der frühen 1920er-Jahre verfolgt die Casablanca Art School ab den 1960er-Jahren jedoch eine Agenda, die das lokale Erbe modernisieren sollte. In Anlehnung an die marokkanische Kunsttradition und unter direkter Bezugnahme auf das Bauhaus werden die Beziehungen zwischen „Kunst“, Kunsthandwerk, Design und Architektur neu ausgelotet.
In den Werkstätten erprobten die Bauhäusler*innen gemeinsam mit den Form- und Werkmeister*innen den Umgang mit Materialien und Techniken. So entstanden unter anderem Gebäude wie das Haus Sommerfeld, in dem viele Studierende aus unterschiedlichen Werkstätten gemeinsam an einem Bauwerk arbeiteten. An anderer Stelle verbanden sich die Studierenden bei der gemeinschaftlichen Arbeit an den Zeitschriften. Dort wurden Abschlussarbeiten vorgestellt, Texte und Fotografien veröffentlicht. Die Hefte zeugen von großer Experimentierfreude und waren Plattform für politische Diskussionen.
TEILHABE UND GEMEINSCHAFT
Vergleichbar wenn auch nicht identisch auf Teilhabe und Gemeinschaft bedachte Projekte, die die tradierten Gattungsgrenzen herausfordern, finden sich auch an der Kunsthochschule Casablancas. Angefangen bei der Wanderausstellung „Présence Plastique“, für die die Studierenden und Lehrenden ihre Kunst in die öffentlichen Räume der Stadt bringen oder dem Kulturfestival Asilah Moussem, das sich u.a. durch gemeinschaftliche großflächige Wandarbeiten auszeichnet, die teils mit den Dorfbewohner*innen zusammen gestaltet werden, bis hin zur Zeitschrift „Souffles“, an der Lehrende der Casablanca Art School als Autor*innen und Illustrator*innen mitwirken. Redaktionelle sowie inhaltliche Entscheidungen vermischen sich mit der Gestaltung. Das ästhetische Programm übersetzt die politischen Beiträge. Mohamed Melehi, Leiter der Malerei und Fotografie, entwickelt das Coverdesign, während Chabâa das Logo gestaltet und Toni Maraini Texte beisteuert. Das Magazin präsentiert literarische Positionen aus einem transnationalen Netzwerk sowie aus dem Maghreb. Ein besonderer Schwerpunkt liegt auf der lokalen ästhetische Bildsprache sowie auf islamischer Architektur, Schmuck, Textilien und Volkskunst. Die Zeitschrift schafft einen visuellen Fundus und theoretischen Überbau aus der Zeit vor der kolonialen Unterdrückung. Dass beispielsweise der berühmte Theoretiker Frantz Fanon im Umfeld dieser Zeitschrift auftritt, ergänzt die Vision, eine kollektive und postkoloniale Identität zu begründen.
Die Casablanca Art School hat vom Bauhaus gelernt, zu verlernen und neu zu denken. Davon zeugen nicht zuletzt auch die Schriften, die Mohamed Melehi oder Toni Maraini während ihrer Zeit an der Casablanca Art School verfasst haben. So schreibt Melehi in seinen „Erinnerungen“ 1964: „Das Vorgehen des Bauhauses trug dazu bei, eine Brücke zwischen der westlichen Bewegung der Moderne und unserer Vision von moderner Kunst in Marokko zu schlagen, auch wenn hier eine lange Tradition der klassischen europäischen bildlichen Darstellung fehlte. Die marokkanischen Künstler kannten die verschiedenen kunsthistorischen Epochen, doch nur das Bauhaus konnte uns mit unserer gestalterisch überaus feinsinnigen Kunsttradition versöhnen.“
Es ist wohl jene, durch das Bauhaus angetriebene, Versöhnung, die die Künstler*innen der Casablanca Art School dazu angetrieben hat, eine ganz eigene Stilistik zu entwickeln und sich für eine dekoloniale Betrachtung der eigenen Kultur einzusetzen.
CASABLANCA ART SCHOOL. EINE POSTKOLONIALE AVANTGARDE 1962–1987
12. JULI – 13. OKTOBER 2024