Die „neue Welle“ Marokkos: Die SCHIRN präsentiert die einflussreiche CASABLANCA ART SCHOOL erstmals in Deutschland in einer großen Ausstellung.
Nur wenige Jahre nach der Unabhängigkeit Marokkos 1956 entwickelt sich in Casablanca ein pulsierendes Zentrum kultureller Erneuerung. Die SCHIRN präsentiert das einzigartige und einflussreiche Wirken der Casablanca Art School in einer ersten großen, längst überfälligen Ausstellung. Die Hauptvertreter*innen dieser innovativen Kunsthochschule, Farid Belkahia (1934–2014), Mohammed Chabâa (1935–2013), Bert Flint (1931–2022), Toni Maraini (*1941) und Mohamed Melehi (1936–2020), werden zusammen mit Studierenden, Lehrenden und assoziierten Künstler*innen schnell zu einem Motor für die Entwicklung einer postkolonialen modernen Kunst in der Region.
Ihr Anliegen ist die Öffnung zu den lokalen künstlerischen Traditionen und zur neuen sozialen Wirklichkeit. Unter anderem im Dialog mit den Ideen des Bauhaus wird das Verhältnis zwischen Kunst, Handwerk, Design und Architektur im lokalen Kontext neu bestimmt, künstlerische Einflüsse aus westlichen Metropolen werden mit Elementen des während der Kolonialzeit unterdrückten lokalen Kulturerbes kombiniert. Die SCHIRN präsentiert rund 100 Werke von 22 Künstler*innen, darunter großformatige abstrakte Gemälde, urbane Wandbilder, Kunsthandwerk, Grafiken, Innenarchitektur und Typografie, dazu selten gezeigte Filme, Zeitschriften und Fotografien. Sichtbar wird eine spezifisch marokkanische Kunstszene, die sich transnational verortet.
Die Ausstellung ist chronologisch-thematisch in acht Sektionen gegliedert. Diese stellen Werke und zentrale Aspekte des Wirkens der Künstler*innen der Kunsthochschule von Casablanca sowie einzelne Positionen aus deren Umfeld vor, ergänzt um dokumentarisches Material. Zudem führt ein weiterer Raum Bücher, Filme und eine Chronologie zusammen. In der öffentlich zugänglichen Rotunde der SCHIRN werden zudem drei Filme der Videoserie „School of Walking“ (2023) des Künstlerduos Bik Van der Pol (Liesbeth Bik und Jos Van der Pol) gezeigt.
ANFÄNGE
Die 1919 während des französischen Protektorats gegründete École Municipale des Beaux-Arts de Casablanca (Kunsthochschule von Casablanca – die mit der von ihr ausgehenden künstlerischen Bewegung international als Casablanca Art School bekannt wurde) folgte zunächst westlichen pädagogischen Ansätzen aus der Zeit ihrer Gründung. Wenige Jahre nach der Unabhängigkeit Marokkos wurde der Künstler Farid Belkahia zum Direktor ernannt, er leitete die Kunstschule von 1962 bis 1974. Belkahia wollte die marokkanische bildende Kunst und ihr Studium neu gestalten und öffnete die Schule auch für marokkanische und weibliche Studierende. Die Kunsthochschule von Casablanca konzipierte Kunst und Kunststudium in Marokko völlig neu.
Im ersten Raum werden Farid Belkahia, Mohammed Chabâa und Mohamed Melehi mit einer Auswahl eigener Werke vorgestellt, das künstlerische Kern-Trio der Schule. Beeinflusst durch ihre Studien im Ausland und den interdisziplinären Ansatz des Bauhaus verbanden die als Dozenten tätigen Künstler Ideen aus Kunst, Kunsthandwerk, Design und Architektur. In der Lehre traten westliche Stile und Methoden wie die Staffeleimalerei in den Hintergrund.
KUNST ÖFFENTLICH MACHEN
Ein entscheidender Moment in der marokkanischen Kunstgeschichte war im Mai 1969 die Eröffnung der von Lehrenden der Kunsthochschule (zu denen inzwischen auch Mohamed Ataallah, Mustapha Hafid und Mohamed Hamidi gehörten) organisierte Ausstellung „Présence Plastique“, die Gemälde auf öffentlichen Plätzen präsentierte. Die SCHIRN zeigt Werke der sechs beteiligen Künstler. Die programmatische Wanderausstellung war ein Protest gegen den staatlichen Salon du printemps. Mehr als zehn Jahre nach der Unabhängigkeit hatten marokkanische Künstler*innen noch immer Schwierigkeiten, Räume oder Galerien zu finden, in denen sie ihre Werke ausstellen konnten. „Présence Plastique“ machte im Mai auf dem Platz Djemaa el Fna in Marrakesch Station, ein paar Wochen später auf der Place du 16 Novembre in Casablanca. Zudem wurde sie 1971 in zwei höheren Schulen in Casablanca gezeigt.
ARBEITEN IM KOLLEKTIV
Die Jahresausstellung von Studierendenarbeiten in der zur Kunsthochschule gehörenden Galerie La Coupole im Park der Arabischen Liga setzte 1968 in der marokkanischen Kunst eine „neue Welle“ in Gang. Die gezeigten Arbeiten waren eine Synthese aus afro-amazighischen Einflüssen und Ausdrucksformen und Stilen der Moderne. Die SCHIRN zeigt Werke von einigen der innovativsten Studierenden aus den Anfangsjahren der Schule, darunter Malika Agueznay, Abdellah El Hariri und Houssein Miloudi – Arbeiten, die sie in engem Austausch mit ihren Lehrer*innen geschaffen hatten und gemeinsam ausstellten.
GRAFIKDESIGN
Die Künstler*innen der Casablanca Art School nutzten das Grafikdesign, um ihre Kunst im öffentlichen Leben zu platzieren. In den Workshops der Kunsthochschule wurden traditionelle Medien wie die Malerei um neue, aus anderen Bereichen entlehnte Ansätze und Strategien erweitert. Mohamed Melehi etwa kombinierte die Malerei mit Collage und eröffnete ein Fotoatelier, während Mohammed Chabâa Dekoration, Bühnenbild und moderne Kalligrafie unterrichtete.
Die SCHIRN zeigt Plakate und Bücher von Melehi und Chabâa sowie Ausgaben der Zeitschrift Souffles, die sie gemeinsam gestalteten. Mit einer Mischung aus Poesie, Literatur und Kulturkritik, strebte das Magazin an, die marokkanische Kunst und Kultur zu dekolonisieren und zu demokratisieren. Weitere Plakate in der Ausstellung sind Ausdruck einer im Zuge der Dekolonisierung Marokkos entstandenen Solidarität mit anderen Ländern und Bewegungen; in ihnen verbindet sich die Kunst mit kulturellem und politischem Aktivismus, etwa Aufrufe zur Unterstützung des chilenischen Volkes gegen die Militärdiktatur (von Augusto Pinochet), der Menschen im Bürgerkrieg in Angola sowie zur Solidarität mit der palästinensischen Bevölkerung. Zu sehen sind auch Ausgaben der Zeitschrift Intégral, die Mohammed Melehi 1971 gründete und die für die Dokumentation der modernen Bewegung in Marokko von 1971 bis 1978 eine wichtige Rolle spielte.
ALLTAGSDESIGN
Um die Kunst in den Alltag der Menschen zu bringen, entwickelte das Netzwerk der Casablanca Art School gemeinsam mit Architekt*innen und weiteren Förderer*innen eine Vision für eine öffentliche Kunst und die Neubelebung vernachlässigter öffentlicher Räume und Stadtviertel. Einer der Hauptakteure war das in Casablanca und Rabat ansässige Architekturbüro Faraoui & de Mazières. Von 1967 bis 1982 entwarf das Netzwerk die Innenausstattung für das Nationale Amt für Fremdenverkehr in Casablanca, die Nationale Bank für wirtschaftliche Entwicklung, für Fabriken, Krankenhäuser, Universitäten, Ferienparks und neu gebaute Hotels. Die Künstler*innen und Architekt*innen integrierten Kunst und Kunsthandwerk in die Gebäude und betrachteten Eingangshallen, Wände, Decken und die feste Ausstattung als „plastisches Terrain“ für eine kreative Intervention. Bei mehreren Hotelprojekten arbeitete das Trio Farid Belkahia, Mohammed Chabâa und Mohamed Melehi mit Künstler*innen zusammen. Die Ausstellung zeigt u.a. Paravent (1972) von Carla Accardi, Siebdrucke von Hamid Alaoui sowie Gemälde von Mohamed Hamidi.
DAS AFRO-AMAZIGHISCHE ERBE
Lehrende und Studierende der Kunsthochschule von Casablanca entdeckten das lokale kulturelle Erbe als Inspirationsquelle für ihre Kunst. Sie verbanden abstrakte Kunst mit arabischen und Amazigh-Traditionen und ließen sich in ihrer Kunst und Lehre von den Teppichen, dem Schmuck, der Kalligrafie und den Deckenmalereien der Region inspirieren. Die SCHIRN zeigt sowohl historische Objekte als auch Werke. Der Dozent Bert Flint betrieb intensive Forschungen im Hohen Atlas und im Anti-Atlas. Sein Studium der außergewöhnlichen Teppiche und des Schmucks ländlicher Regionen ließ er in den Unterricht einfließen.
Zu sehen sind Fotografien von Mohamed Melehi, der neben seiner Arbeit als Maler, Designer und Aktivist auch als Fotograf tätig war und die marokkanische Gesellschaft sowie die einheimische Kunst und Architektur dokumentierte. In einem fotografischen Inventar dokumentierte er Flints Forschungen im Gebiet des Flusses Souss, darunter Schmuck und Deckenmalereien. In den Arbeiten der Lehrenden und Studierenden der Hochschule wurden Einflüsse des afrikanischen, islamischen, mediterranen und amazighischen Erbes sichtbar. Ihre Werke griffen Traditionen des Kunsthandwerks auf, die in der westlich geprägten Kunst nicht vorhanden waren; die Kalligrafie, dekorative Symbole und geometrische Muster von spiritueller Bedeutung wurden mit regional erhältlichen Materialien wie Kupfer, Häuten (Leder), Holz und Wolle kombiniert.
Transnationale Solidarität
Die erste Biennale of Arab Art fand 1974 im Museum für moderne Kunst in der irakischen Hauptstadt Bagdad statt. Organisiert von der General Union of Arab Artists, brachte sie Künstler*innen aus 14 arabischen Nationen zusammen und zeigte über 600 Kunstwerke. Die SCHIRN zeigt Werke von Farid Belkahia, Saâd Ben Cheffaj, Mohammed Chabâa, Abdelkrim Ghattas, Miloud Labied und Mohamed Melehi, die zu den insgesamt 14 Künstler*innen der marokkanischen Delegation aus dem Umfeld der Kunsthochschule gehörten. Sie galten als die lebendigste und dynamischste „neue Welle“, da sie sich durch ihre Kompromisslosigkeit gegenüber der Ikonografie des Sozialistischen Realismus oder surrealistischen Trends hervorhoben. Die Künstler*innen der Casablanca Art School verbanden die Suche nach einer spezifisch marokkanischen Identität mit internationalen Ambitionen sowie der künstlerischen und politischen Solidarität zwischen unabhängigen arabischen Nationen. In diesem Kontext organisierten sie u. a. 1976 die Biennale of Arab Art im marokkanischen Rabat.
OPEN-AIR-MUSEUM
Das jährliche internationale Kulturfestival Asilah Moussem Culturel wurde 1978 von Mohamed Benaïssa und Mohamed Melehi in ihrer nordmarokkanischen Heimatstadt Asilah in Zusammenarbeit mit Toni Maraini gegründet, um die vernachlässigte Stadt neu zu beleben. Organisiert wurden Open-Air-Ausstellungen von Gemälden und Wandmalereien, Skulpturen und Keramiken sowie Vorträge, Theateraufführungen, Konzerte und Workshops für Kinder. Melehi lud Künstler*innen aus arabischen Ländern, aus anderen Teilen Afrikas und Asiens, aus Europa und den Vereinigten Staaten zu dem Festival ein. Sie alle teilten die kollektive Vision einer Verschönerung des Alltags und setzten Kunst mit sozialem Fortschritt gleich. Zu sehen sind historische Fotografien der Wandgemälde sowie unter anderen ein Gemälde der autodidaktischen marokkanischen Künstlerin Chaïbia Talal, die selbst keiner Schule angehörte und ebenfalls zum Asilah Moussem Culturel eingeladen wurde. Das Festival existiert noch heute; es ist ein Vermächtnis des Aktivismus der Casablanca Art School und ihres Ziels, die Kunst zu dekolonisieren und zu demokratisieren.
CASABLANCA ART SCHOOL. EINE POSTKOLONIALE AVANTGARDE 1962–1987
12. JULI – 13. OKTOBER 2024