Toni Maraini kam 1964 an die CASABLANCA ART SCHOOL. Sie war maßgeblich am Asilah Moussem Kulturfestival beteiligt und hielt Seminare zur marokkanischen Kunst. Im exklusiven Interview teilt sie ihre Erinnerungen und gibt Einblicke in ihre Lehrtätigkeit.
1. Toni Maraini, Sie kamen 1964 an die Kunsthochschule von Casablanca und bildeten schon bald zusammen mit Farid Belkahia, Mohamed Melehi und Mohammed Chabâa den „harten Kern“ der Hochschule. Aber zwei Personen dieses Trios kannten Sie bereits vor diesem Zeitpunkt. Wie sind Sie Mohamed Melehi und Mohammed Chabâa zum ersten Mal begegnet?
Tony Maraini: Als Mohamed Melehi und ich auf Einladung ihres neu ernannten Direktors Farid Belkahia als Dozent*innen an die Kunsthochschule von Casablanca kamen, lehrte Mohammed Chebaa [heute „Chabâa“ geschrieben] dort noch nicht; er war ab 1966 dabei, und Ataallah stieß 1968 hinzu.
1964 war der wegbereitende „harte Kern“ der Schule also noch sehr klein, trat aber dank Belkahias Begeisterungsfähigkeit und institutionellem Engagement schon sehr bald in Aktion. Belkahia wollte den noch stark kolonialistisch geprägten Geist und Lehrplan verändern, neue Seminare anbieten (darunter das über Kunstgeschichte), neue pädagogische Ansätze entwickeln und die Schule vollständig für marokkanische Studierende öffnen. Melehi und ich hatten die gleichen Ansichten und Ideale und verfolgten ähnliche Projekte, und da neue Dozent*innen und Kurse benötigt wurden, stellten wir Belkahia unsere Freunde Chebaa und Ataallah vor.
Melehi und ich hatten sie während ihres Kunststudiums in Rom kennengelernt und uns mit ihnen angefreundet. Wir trafen uns regelmäßig mit anderen jungen Künstler*innen, tauschten Erfahrungen und Ideen aus und kamen in der „Trastevere Gallery“ von Topazia Alliata – meiner Mutter – zusammen, wo Melehi 1959 seine erste Einzelausstellung hatte und ich ihm zum ersten Mal begegnete.
Chebaas Arbeiten waren später Teil einiger Gruppenausstellungen in der Galerie, während Ataalah zwischenzeitlich zuerst nach Spanien und dann nach Marokko gegangen war. Als beide an die Kunsthochschule von Casablanca kamen (wo unterdessen auch die Künstler Mohamed Hamidi und Mustafa Hafid unterrichteten), war unser Team einheitlicher geworden und konnte in freundlicher Solidarität einige ambitionierte Projekte realisieren (Manifeste, unabhängige Aktionen, Ausstellungen im öffentlichen Raum usw.).
2. 1963 gründeten Sie zusammen mit Mohamed Melehi, Mohamed Ataalah und Mohammed Chabâa in Tanger die Künstler*innengruppe Algebra, in der die Forschung eine Art Vorläufer der Kunsthochschule von Casablanca erkennt. Was war der Hintergrund und inwiefern unterschied sich das Selbstbild von Algebra von der künftigen Ausrichtung der Kunsthochschule?
Toni Maraini: Ja, der Wunsch, eine Gruppe zu gründen und uns künstlerisch zu engagieren, kann in gewisser Weise als ein Vorläufer dessen angesehen werden, was wir später in der Schule konkret umgesetzt haben. Als wir uns während unseres Sommerurlaubs 1963 in Tanger trafen – wo wir auch im Sommer 1964 wieder zusammenkamen – hatten meine Freunde eine sehr kritische Haltung zur Situation der Kunst in Marokko eingenommen. Zu dieser Zeit wurden vorrangig exotische und folkloristische Produktionen unterstützt, und die lokale Kunstwelt und der Kunstmarkt waren noch sehr stark von westlicher Kulturpolitik beherrscht. Meine Freunde wollte daran etwas ändern und unsere unabhängige Forschung und Identität durchsetzen.
Um meine Solidarität mit ihren kulturellen Forderungen zu bekunden, schrieb ich einen Artikel für die in Tangier erschienene Zeitschrift „Mawaqif“. Sie hatten das Wort „Algebra“ zum ersten Mal während unserer Zeit in Rom verwendet und es mit einem bestimmten Erbe rationalen Denkens assoziiert. In Tanger wurde es als Metapher übernommen. Im Vorwort zu der Gruppenausstellung in Rabat 1965, bei der auch Arbeiten von Melehi und Chebaa gezeigt wurden, schrieb ich: „Tout un patrimoine millénaire arabe d’amour pour le rationnel et l’harmonie algébrique se manifeste dans les toiles, tout y est construit et équilibré.“ [„Ein tausendjähriges arabisches Erbe der Liebe zur Rationalität und algebraischen Harmonie wird in den Gemälden deutlich, in denen alles differenziert und ausgewogen ist.“].
Übertragen auf die Schule, waren die Probleme, Kunstwerke und Theorien natürlich vielfältiger und komplexer, aber die Frage von Identität und „Selbstbild“ hatte immer noch hohe Priorität, und das Engagement für einen Erneuerungsprozess war dasselbe, wenn auch konkreter formuliert und angewandt.
3. In Ihren Texten und Essays haben Sie die visionären Ideen der Schule formuliert. Gleichzeitig schrieben Sie für die Zeitschrift „Souffles“ und waren Mitbegründerin des literarisch-künstlerischen Magazins „Intégral“. Welche Rolle spielte Theorie innerhalb der Kunsthochschule, und gab es eine zentrale Botschaft oder Funktion, unter der Ihre Schriften zusammengefasst werden könnten?
Toni Maraini: „Souffles“ war in den 1960er-Jahren ein wichtiger Nährboden für innovative Ideen, politisches Engagement und kreative Zusammenarbeit zwischen bildenden Künstler*innen, Dichter*innen, Musiker*innen, Filmemacher*innen, Intellektuellen usw. Eine vollkommen neue, bahnbrechende Periode „visionärer Ideen“ bildete sich heraus…
Die Gruppe der Kunsthochschule von Casablanca trug dazu bei, mithin auch ich. Was ich in meinen Schriften zum Ausdruck brachte, stimmte mit den Zielen unserer Gruppe überein und war eine Art „road map“ – ein für Anregungen und Vorschläge offener Plan und eine konkrete Umsetzung „visionärer Ideen“. Mir war es wichtig, all dies zu dokumentieren. Und die zentrale Botschaft? … Koloniale Ideologie analysieren, Bedingungen schaffen und sich einsetzen für kulturelle und gesellschaftliche Veränderungen, Forschung betreiben und Zusammenarbeit für ein besseres Verständnis und eine neue Wahrnehmung von Geschichte, Kunst, Tradition und Moderne fördern.
4. Mit Ihrem Fokus auf die marokkanische Kunst und ihre Geschichte von der Vergangenheit (Vorgeschichte, Antike, vorislamische und islamische Kunst) bis hin zu den internationalen Bewegungen des 20. Jahrhunderts haben Sie als Erste in Marokko ein derartig vorausschauendes kunsthistorisches Lehrprogramm entwickelt. Wie sah ein typisches Seminar aus?
Toni Maraini: Da ich nach dem Krieg als Jugendliche eine Zeitlang in Sizilien, der Heimat meiner Mutter, lebte und zur Schule ging, war ich mit der Gesellschaft und Kultur des Mittelmeerraums vertraut. Nachdem die Familie nach Rom gezogen war – damals (in den 1950er-/1960er-Jahren) eine kosmopolitische Stadt –, lernte ich Studierende und Künstler*innen aus verschiedenen Mittelmeerländern kennen (unter anderem aus dem Nahen Osten und Nordafrika), wodurch ich die aktuellen Produktionen des Mittelmeerraums verfolgen konnte. Und als ich dann im Ausland studierte (in Frankreich, England und den USA), wurde ich mir des verbindenden Austauschs mit westlichen Künstler*innen und der weltweiten Moderne bewusst. Die Stärkung der Freundschaft mit afroamerikanischen Künstler*innen – insbesondere mit Bob Blackburn, Camille Bellops und dem gebürtigen Sudanesen Mohamed Omar Khalil, die uns später alle beim Asilah Moussem unterstützten – war besonders lehr- und einflussreich.
Meine Seminare? Zu Beginn gab es in dem kleinen Klassenraum der Kunsthochschule von Casablanca nichts für meinen Unterricht… keinen Diaprojektor, keine Dias oder Bücher über Marokko, den Maghreb und Afrika in der Bibliothek der Schule. Ich erstellte eine Liste von Büchern und Dokumenten, Belkahia beschaffte sie und kaufte einen guten Projektor. Dank Melehi, der auch Fotograf war und ein Fotolabor in der Schule eingerichtet hatte, legten wir eine Sammlung von Kunstdias an. Dafür reisten Melehi und ich – manchmal begleitet von dem holländischen Ethnografen Bert Flint – so oft wie möglich durch das Land und an entlegene Orte im Atlasgebirge, um Aufnahmen von besonderen Orten, Bauwerken und Kunstwerken zu machen…
An meinen Seminaren nahmen am Anfang einige wenige Studierende teil, die damals die Schule besuchten. Schon bald kamen viele neue Jungen und Mädchen an die Kunsthochschule, als diese nicht länger ein teures Elite-Institut, sondern eine öffentliche städtische Einrichtung war. Danach waren die Seminare voll. Da es kein richtiges Lehrbuch gab, tippte ich das Unterrichtsmaterial ab, druckte Kopien und verteilte sie an die Studierenden.
Um besser zu verstehen, wofür genau sie sich interessierten, organisierte Belkahia wöchentliche Versammlungen von Studierenden und Dozent*innen. Die Studierenden wollten mehr über marokkanische Kunst und Traditionen sowie über moderne westliche Strömungen und Kunst erfahren, Malerei und Skulptur erlernen, aber auch Grafikdesign, Werbung, Kunst am Bau und Kunsthandwerk, beispielsweise Keramik. Ich hielt ein paar Vorlesungen über das Bauhaus – damals die ersten ihrer Art in Marokko.
Gleichzeitig wurden die Studierenden ermutigt, in der Aula der Schule einmal pro Semester ihre Arbeiten zu präsentieren. Es war also kein „typisches“ kunsthistorisches Seminar, sondern ein Programm, das sich im Laufe der Jahre weiterentwickelte! Es bestand von 1964 bis Anfang der 1970er-Jahre, als unsere Gruppe im Streit mit der neuen Stadtverwaltung die Schule verließ, nachdem Belkahia als Direktor zurückgetreten war.
5. Gibt es eine Erinnerung an Ihre Zeit an der Kunsthochschule von Casablanca, die Sie mit uns teilen möchten – zum Beispiel im Zusammenhang mit dem Kulturfestival Asilah Moussem, das 1978 ins Leben gerufen wurde und an dem Sie maßgeblich beteiligt waren?
Tony Maraini: Eine schwierige Frage... Diese Jahre sind voller Erinnerungen, die ich auf verschiedenen Wegen zu teilen versucht habe – in Büchern, Artikeln, Essays, sogar in Kurzgeschichten und Gedichten. Und ich möchte sie noch immer teilen, aber das würde an dieser Stelle zu lange dauern... und was sollte ich da auswählen?... Das Kulturfestival Asilah Moussem wurde ins Leben gerufen, nachdem wir die Kunsthochschule schon lange verlassen hatten… und doch setzte es irgendwie deren Pionierarbeit und auch das Konzept der „Présence Plastique“ an öffentlichen Orten fort.
Eine besondere Erinnerung? Der Free Art Workshop (1978/1986), ein frei zugänglicher Sommer-Workshop in Asilah – mit Tischen, Stühlen, Verteilung von Kunstmaterialien -, den ich mit Hilfe eines Assistenten im Park des „Palais de la Culture“ für Kinder und Jugendliche, Mädchen und Jungen verschiedenen Alters (von 8 bis 14) veranstaltet habe. Einige Kinder hatten Schulferien, einige Kinder aus dem Ort und der Region besuchten gar keine Schule, andere waren Straßenkinder mit Problemen… Aber sie alle kamen und arbeiteten mit einer unglaublichen Begeisterung und dem Wunsch, zu malen, zeichnen, Formen herzustellen, zu erfinden und zu kommunizieren! Ihre Arbeiten waren wunderbar, also stellten wir sie aus. Einige der Kinder, die an dem Workshop teilnahmen, wurden später Künstler*innen oder Kunstlehrer*innen und schreiben mir noch heute. Es war eine fantastische Erfahrung, die bestätigte, dass freie künstlerische Gruppenarbeit und künstlerischer Ausdruck eine bereichernde therapeutische und pädagogische Praxis sein können.
CASABLANCA ART SCHOOL. EINE POSTKOLONIALE AVANTGARDE 1962–1987
12. JULI – 13. OKTOBER 2024