Salma Lahlou beschäftigt sich in ihren Ausstellungen und Forschungsprojekten seit vielen Jahren mit der CASABLANCA ART SCHOOL. Wir haben mit ihr über ihre erste Begegnung mit der Kunsthochschule und über das bedeutende Vermächtnis und Potenzial gesprochen, das ihre Lehre für das heutige Marokko besitzt.

Mohammed Chabâa, Composition, 1975, Zellulosefarbe auf Holz, 2.5 x 3.6 m, courtesy: Marrakech Biennale; Foto: © Jens Martin, image via frieze.com

1. Salma Lahlou, Sie sind unabhängige Kuratorin und Direktorin von ThinkArt Casablanca. Bis Mitte Januar diesen Jahres war die Ausstellung „School of Casablanca“ in der ifa-Galerie in Berlin zu sehen, die Sie und ThinkArt in Zusammenarbeit mit dem KW Institute of Contemporary Art (Kunst-Werke Berlin), der Sharjah Art Foundation, der ifa-Galerie, dem Goethe-Institut Marokko und Zamân Books & Curating organisiert haben. Wann sind Sie der Casablanca Art School zum ersten Mal begegnet und was hat Sie dazu inspiriert, dieses umfangreiche Forschungs- und Ausstellungsprojekt zu realisieren?

Salma Lahlou: Meine erste Begegnung mit der Casablanca Art School fand 2015 statt. Anlässlich der Marrakesch Biennale 6 mit dem Titel „Not New Now?“ (Februar - Juni 2016) wurden Fatima-Zahra Lakrissa und ich von Reem Fadda eingeladen, eine Ausstellung über die Hochschule und die Menschen zu kuratieren, die ihren neuen Lehransatz prägten.

Die in den 1920er-Jahren von den französischen Kolonialbehörden gegründete und 1951 offiziell eingeweihte École municipale des beaux-arts de Casablanca (Kunsthochschule von Casablanca) spielte eine entscheidende Rolle für eine innovative neue Epistemologie kultureller Disziplinen, vorangetrieben von einer ganzen Generation von Künstler*innen, Dichter*innen, Filmemacher*innen, Architekt*innen, Dramatiker*innen und Musiker*innen. In den 1960er-Jahren erlebte die Schule eine Phase der Erneuerung, ausgelöst durch Künstler wie Farid Belkahia (1934-2014), Mohammed Chabâa (1935-2013) und Mohamed Melehi (1936-2020), die Kunsthistorikerin und Anthropologin Toni Maraini und den Linguisten Bert Flint (1931-2022), der über die Kunst der Afro-Berber forschte und ein leidenschaftlicher Experte für Volkskunst und rurale Traditionen war. Später kamen drei weitere Künstler und Unterstützer hinzu, Mohamed Ataallah (1939-2014), Mustapha Hafid und Mohamed Hamidi, die künstlerisch-ästhetische Vorstellungen mit Ideen für soziale Reformen und Emanzipation vereinigten, um ein gemeinsames kulturelles Projekt zu realisieren. Was damals als Casablanca Art School bezeichnet wurde, meint sowohl die Institution zu ihrer Blütezeit (1964-1969) als auch die ästhetische Revolution, wie sie die Arbeiten dieser Künstler*innen und Dozent*innen verkörperten.

Die Durchführung und Auswertung dieser Forschungen und die Ausstellung der daraus folgenden Ergebnisse gingen irgendwann weit über ein einfaches Studienprojekt hinaus. Es machte mir das große Problem bewusst, dass ganze Bereiche unserer Identität nicht überliefert werden. Und da uns nur wenig übermittelt wurde, müssen wir uns das Wissen, die Gesten und Narrative aneignen, die unser kollektives Gedächtnis ausmachen. Ich erinnere mich, dass ich ziemlich aufgebracht war, als ich Abdellatif Laâbis Artikel „Le gâchis“ über bildende Kunst in Marokko las, der 1967 in der Sonderausgabe der avantgardistischen Kulturzeitschrift „Souffles“ veröffentlicht wurde. Ich konnte nicht verstehen, warum diese Zeitschrift nicht in der Hochschule studiert wurde. Können Sie sich vorstellen, dass diese Aufbauperiode unserer gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Identität den Studierenden an der Kunsthochschule von Casablanca nicht nähergebracht wird?

Und genau wegen dieser „fehlenden Vermittlung“ haben wir das Projekt „School of Casablanca“ ins Leben gerufen.

School of Casablanca (16.02.–12.05.2024), ifa-Galerie Berlin, Image via ifa.de

2. Zur Teilnahme an der Ausstellung waren nicht nur Künstler*innen, Designer*innen und Kurator*innen, sondern auch unabhängige Akademiker*innen eingeladen. Sie alle haben im Rahmen eines Residency-Programms in Casablanca geforscht und Feldstudien betrieben. Gab es Ergebnisse, die für Sie besonders hervorstachen, und können Sie uns etwas darüber und über das Residency-Programm im Allgemeinen erzählen?

Salma Lahlou: Das Residency-Programm und die öffentlichen Programme fanden zwischen September 2020 und Dezember 2022 statt.

Die Beteiligten nahmen jeweils eines der Themen, die innerhalb der Hochschule zur Sprache gebracht wurden und ihre eigene Praxis widerspiegelten, kritisch unter die Lupe. Es sollten Fragen zum Vermächtnis der Kunsthochschule von Casablanca innerhalb des herrschenden soziopolitischen Klimas in Casablanca und Marokko formuliert werden.

Bevor ich auf die Forschungsvorschläge der Teilnehmer*innen eingehe, lassen Sie mich kurz die Bereiche skizzieren, die den Anteil der Hochschule ausmachen. Die Künstler*innen und Theoretiker*innen der Hochschule forderten eine Stärkung der zentralen Verbindung zwischen moderner künstlerischer Produktion und plastischen Traditionen; eine Ästhetik ornamentaler Abstraktion; eine Verflachung der Hierarchie zwischen den schönen Künsten und traditioneller Kunst, wie sie die Franzosen etabliert hatten; die Abschaffung der Trennung von Kunst und Leben; einen übergreifenden Zugang zur Kunst; den Status von Kunst als Raum für geteiltes Wissen und Erfahrung; die Stärkung der Rolle der Kunstschaffenden als Produzent*innen eines sozialen und kulturellen Projekts; und die Öffentlichmachung von Kunst durch die Verflechtung künstlerischer Arbeiten mit dem Gewebe der Stadt und der Gesellschaft allgemein.

Die weitaus meisten Vorschläge – um nicht zu sagen alle – gefielen mir ausgesprochen gut. Besonders begeisterten mich die Kanaldeckel und Straßenmöbel von Manuel Raeder, sein Spiel mit der Nutzung und den Projektionen durch die Öffentlichkeit, in dem nichts statisch ist. Die Fiktion-Realität, die Fatima-Zahra Lakrissa in dem epistemologischen Bruch zwischen Bert Flint und Toni Maraini erdachte, trug dazu bei, eine Lücke im Zusammenhang mit Fragen von Gültigkeit und Hierarchien zwischen Akademismus und Heuristik zu füllen. Céline Condorelli schrieb die visuelle Sprache der Abstraktion als Frauenarbeit in eine monumentale Installation ein; dafür verwendete sie in Boujaad gesammelte Teppiche und errichtete gleichzeitig ein Förderungsnetzwerk für Weber*innen, in Zusammenarbeit mit dem gelehrten Teppichändler und -sammler Rabii Bibi Alouani. Abdeslam Ziou Ziou tat sich mit Künstler*innen zusammen und schuf einen Ort für die Darstellung, Rezeption und Diskussion der Fragen rund um Kunst und Psychiatrie. Zu diesem Zweck beschäftigte er sich mit der Arbeit seines Vaters, einem Psychiater, der 1981 mit den Künstler*innen der Kunsthochschule von Casablanca in der psychiatrischen Einrichtung in Berrechid arbeitete. Amina Belghiti befasste sich mit den Klangbildern der Zeit, den Zwischenräumen, Absenzen und der Stille in und um die Hochschule. Peter Spillmann ermöglichte in einem modularen Container den Zugang zu Marion von Ostens Archiv über Casablanca, und zwar mit einer wegweisenden Arbeit: Sie trug den Titel „la bibilothèque de passage“ und war bei ThinkArt zu sehen. Und das sind nur einige Beispiele.

Casablanca Art School. Eine postkoloniale Avantgarde 1962–1987, Installationsansicht Bik Van der Pol "School of Walking" in der Rotunde, © Schirn Kunsthalle Frankfurt 2024, Foto: Norbert Miguletz
Casablanca Art School. Eine postkoloniale Avantgarde 1962–1987, Installationsansicht Bik Van der Pol "School of Walking" in der Rotunde, © Schirn Kunsthalle Frankfurt 2024, Foto: Norbert Miguletz

3. Die Video-Reihe „School of Walking“ des Künstler*innenduos Bik van der Pol entstand im Rahmen des Residency-Programms und zeigt Stadtführungen mit verschiedenen lokalen Kulturschaffenden, die Casablanca als moderne Stadt und kreatives Zentrum präsentieren, in dem Künstler*innen der 1960er- und 1970er-Jahre ihre Träume von einer gemeinsamen Zukunft entwickelten. Ein Teil dieser Reihe ist derzeit in der öffentlich zugänglichen Rotunde der SCHIRN zu sehen. Was hat Sie an den Videos fasziniert?

Salma Lahlou: Liesbeth Bik und Jos van der Pol gehörten zu den ersten Artists in Residence. Spaziergänge durch eine Stadt gehören zu ihrem natürlichen „modus operandi“, denn sie bilden einen festen Bestandteil ihres Lebensstils. Ich habe mich in ihre Praxis vertieft, indem ich ihre Arbeiten studierte; durch sie konnte ich wirklich begreifen, was Kunst als soziale Praxis bedeutet. Und das war ein Glück, denn dank ihnen konnte ich auch Ruangrupas Documenta besser verstehen!

Im Zuge unserer vielen Gespräche lud Liesbeth mich ein, ein weiteres Prisma zu aktivieren und Objekte als Modelle des Möglichen oder „Werkzeuge der Möglichkeiten“ zu sehen und die Nuancen einzubeziehen, die den Unterschied ausmachen zwischen dem, was Objekte tun und wie sie aussehen.

Spaziergänge ermöglichen uns, auf unterschiedliche Art miteinander in Verbindung zu treten, unsere Perspektive zu erweitern und uns das urbane Umfeld bewusst zu machen, das von Anfang an von Künstler*innen aktiviert wurde. Mir war es besonders wichtig, Hassan Darsi einzuladen, der für mich zu den bedeutendsten sozial engagierten Künstler*innen Marokkos gehört. Seine Arbeit zum Parc de l'Hermitage stellte einen Meilenstein für meine Generation dar, weil sie die administrative Apathie durchbrach und den Bewohner*innen der Stadt ermöglichte, einen öffentlichen Park, den man völlig sich selbst überlassen hatte, wieder in Besitz zu nehmen. Fatima Mazmouz verkörperte unseren politischen Widerstand in einem aktiven Marsch zu Straßen, die nach weniger bekannten historischen Figuren benannt waren und deren Geschichte jüngeren Generationen kaum vermittelt wird. Mohamed Fariji zeigte mit seinem Projekt für ein kollektives Museum in Casablanca, wie die Stadt ihr architektonisches Erbe vernachlässigt und verfallen lässt, während uns gleichzeitig Orte der Begegnung für Diskussionen, Ausstellungen und anderes fehlen.

Spaziergänge aktivieren dazu auch eine andere Art der Aufmerksamkeit, weil sie den Körper einbeziehen und dadurch sowohl die Sinne als auch den Geist ansprechen. Sie umgehen das Format der Vorlesung, bei dem die*der Dozent*in im Mittelpunkt steht, und führen stattdessen zu zahlreichen informellen Gesprächen. Die Stadt wird einfach anders erlebt als bei traditionellen Stadtführungen. Casablanca ist nicht einspurig. Es gibt viele Routen und Stadtviertel, die es uns erlauben, neue Verbindungen herzustellen und unerwartete Diskussionen unter den Spaziergänger*innen herbeizuführen, wodurch sich neue Perspektiven eröffnen.

Wir haben diese Spaziergänge während der Ausstellung in Casablanca fortgeführt, und ich hoffe, sie auch in Zukunft weiterhin organisieren zu können.

Salma Lahlou, © Hatim Ben Rachad

4. Worin besteht Ihrer Meinung nach das große Vermächtnis der Casablanca Art School, und welche Spuren findet man heute noch in der Stadt selbst und in ganz Marokko?

Salma Lahlou: Ich würde sagen, es geht darum, den soziokulturellen Kontext der Zeit zu berücksichtigen und darauf mit Aktionen zu reagieren, die sowohl formal als auch für den Raum relevant sind, in dem sie existieren. Initiativen wie „La Source du lion“, „L'Atelier de l'observatoire“, „Darjaa“ und, in jüngerer Zeit, „Malhoun“, „Siniya“ und „CARCDAM“ sind Beispiele für dieses Bewusstsein.

5. Lassen Sie uns zum Schluss einen Blick in die Zukunft werfen: Welche Strategien und Methoden der Hochschule haben für Sie das größte Potenzial im derzeit herrschenden soziopolitischen Klima Marokkos?

Salma Lahlou: Hier sind Zusammenarbeit, Forschung, Feldarbeit, Experimentieren, Sorgfalt und Umbrüche von entscheidender Bedeutung.

CASA­BLANCA ART SCHOOL. EINE POST­KO­LO­NIALE AVANT­GARDE 1962–1987

12. JULI – 13. OKTO­BER 2024

ZUR AUSSTELLUNG