Mit „L'altra metà dell'avanguardia 1910-1940“ kuratierte Lea Vergine 1980 im Palazzo Reale in Mailand eine der ersten Ausstellungen, die auf übersehene Künstlerinnen der westlich geprägten Kunstgeschichte aufmerksam machte. Auch CAROL RAMA fand darin viel Beachtung – mit Folgen bis heute.
Die Turiner Künstlerin Carol Rama (1918–2015) legte mit ihren erotischen Aquarellen schon in den 1930er-Jahren den Grundstein für ein überaus vielseitiges Werk, das in den folgenden 70 Jahren nahezu jedes Jahrzehnt eine radikale Neuerung aufzuweisen vermochte. Doch ihr Weg zur internationalen Anerkennung blieb lang und beschwerlich: Eine adäquate öffentliche Würdigung für ihre Arbeit erhielt Rama erst im hohen Alter. Und das, obwohl sie in Intellektuellen- und Kunstkreisen bereits lange als Künstlerin angesehen wurde, regelmäßig an Ausstellungen teilnahm und schließlich auf der Venedig Biennale 2003 mit dem Goldenen Löwen für ihr Lebenswerk ausgezeichnet wurde.
„Wenn ich wirklich so gut bin, kapiere ich nicht, warum ich so lange hungern musste, auch wenn ich eine Frau bin“– diese Worte der damals 86-jährigen Rama waren deutlich, zudem wütend und erzählten das, was die meisten Künstlerinnen innerhalb ihres Werdegangs erleb(t)en.
Mit CAROL RAMA. REBELLIN DER MODERNE zeigt die SCHIRN nun die erste institutionelle Retrospektive im deutschsprachigen Raum. Sie reiht sich in eine Vielzahl von Ausstellungen der letzten Jahre ein, die es ermöglichen, der Fülle an bislang unberücksichtigten Künstlerinnen im späteren Lebensalter oder postum endlich einen adäquaten Raum zu geben, darunter Pati Hill, Faith Ringgold, Ana Mendieta, Marta Minujín, Louise Bourgeois, Lee Krasner, Paula Modersohn-Becker und viele weitere.
Der Umgang mit Künstlerinnen und ihrem Werk hat im Laufe des 20. Jahrhunderts viele Veränderungen erfahren: Einerseits ist ihre künstlerische Arbeit sichtbarer geworden. Andererseits blieben Konstanten bestehen, die dies weiterhin bremsten, und auch neue Herausforderungen wurden erkennbar, die die Repräsentation und Lesbarkeit der künstlerischen Werke beeinflussen. Der oft in diesem Kontext auftretende Begriff der Wiederentdeckung suggeriert dabei ein komplexes Problem, das auch von den Strukturen des Kunstbetriebs erzählt und die Frage stellt, wer hier eigentlich wen entdeckt und ob der Begriff des Entdeckens nicht schon allein gewisse Machtverhältnisse in sich birgt. Die tragenden Säulen, also Kunstbetrieb, Kunstkritik und Markt, entscheiden maßgeblich über die Sichtbarkeit von künstlerischen Positionen und werden seit ihrem Bestehen zumeist von patriarchalen Strukturen mitbestimmt.
In den 1970er- und 1980er-Jahren entstanden in westlichen Ländern drei Schlüsselausstellungen, die auf übersehene, allerdings fast ausschließlich „weiße" Künstlerinnen aufmerksam machten: „Künstlerinnen International 1877-1977“, organisiert 1977 von der Gruppe Frauen in der Kunst im Schloss Charlottenburg in Berlin, „Women Artists 1550-1950“, die 1976 von Anne Sutherland Harris und Linda Nochlin im Los Angeles County Museum of Art realisiert wurde sowie die von Lea Vergine initiierte Ausstellung „L'altra metà dell'avanguardia 1910-1940“ [deutsch: Die andere Hälfte der Avantgarde] im Palazzo Reale in Mailand 1980. Auch Carol Rama fand hier Raum für ihre Arbeit.
Die Pionierleistung dieser Gruppenausstellungen lag in der Wertschätzung von Künstlerinnen. Sie wurden nun als zentrale Akteurinnen anerkannt. Seitdem wuchs die Zahl dieses Ausstellungsformats, das mittlerweile auch die Einseitigkeit der westlichen Perspektive aufzubrechen versucht. Neben umfangreichen Retrospektiven von älteren oder bereits verstorbenen Künstlerinnen sind sie gegenwärtig ein weit verbreitetes Programmformat, auf das sich der Ausstellungsdiskurs in Europa und den USA seit einigen Jahren geeinigt hat.
„L'altra metà dell'avanguardia 1910-1940“
Lea Vergine, Kuratorin von „L'altra metà dell'avanguardia 1910-1940“, sah in den Konzepten der beiden vorausgegangenen Projekte einen zu großen Zeitraum abgedeckt und dadurch wenig Raum für eine tiefgreifende kunstwissenschaftliche Recherche. Mit ihrem Konzept wollte sie die Avantgarde-Strömungen des frühen 20. Jahrhunderts umfangreich beleuchten, Frauen als aktive Akteurinnen hervorheben und ihre Biografien und Werken komplexer darstellen. Konkret hieß das, die Frauen als selbstbewusste und prägende Künstlerinnen innerhalb der Avantgardebewegungen zu zeigen, losgelöst von der Erzählung, dass diese im Schatten von Künstlern in der Rolle als Ehefrauen oder Musen mehr mitgemischt als ein eigenständiges Werk erschaffen hätten. Genau darin liegt die große Stärke der Ausstellung, der eine intensive und langwierige Forschungsarbeit vorausging. In mehr als 20 Ausstellungsräumen wählte Vergine Kunstwerke von mehr als 100 Künstlerinnen und versammelte Malerei, Skulptur, Fotografie und Design, die sie den jeweiligen Bewegungen vom Blauen Reiter über Kubismus, Futurismus und Bauhaus bis hin zum Surrealismus zuordnete und in den bestehenden Kanon mitaufnahm. Neben Carol Rama wurden auch Arbeiten von Ithell Colquhoun, Frida Kahlo, Marisa Mori und vielen weiteren Künstlerinnen gezeigt, die innerhalb der Strömungen zuvor ausgelassen wurden. Die Ausstellung wanderte im Anschluss an Mailand nach Rom und Stockholm und fand somit internationale Beachtung.
Für die Gestaltung engagierte Vergine den Architekten, Produkt- und Ausstellungsdesigner Achille Castiglioni zusammen mit der Künstlerin Grazia Varisco – beide waren bereits damals bekannte Größen der Mailänder Kunst- und Designszene. Gemeinsam entstand eine raumspezifische, sich über die vielen Säle erstreckende textile Installation aus hellem, halbtransparent gespannten Stoff. Diese durchbrach als eigene künstlerische Arbeit einerseits die Architektur, andererseits sorgte sie für eine indirekte Beleuchtung der gehängten Kunstwerke und wich von dem recht üblichen Ausstellungslicht über Spots ab. Die zahlreichen Kritiken zur Ausstellung waren von diesem ungewöhnlichen Kunsterlebnis begeistert, das sich aus der räumlichen Intervention sowie dem innovativen kuratorischen Konzept ergab.
Die sehr bekannt gewordene Installation wurde 20 Jahre später in der Fondazione Achille Castiglioni erneut gezeigt. In diesem Kontext wurde auch Vergine zu einem Vortrag eingeladen. Sie begann mit dem Vorlesen gesammelter Kritiken zu „L'altra metà dell'avanguardia 1910-1940“, in der sie ein wenig schmunzelnd eine italienische Journalistin zitierte, die schrieb, dass die Ausstellung für Männer sehr anstrengend sei, da darin ausschließlich Künstlerinnen gezeigt werden. Auch die Installation von Castiglioni und Varisco entkam dem männlichen Blick nicht: Viele sahen darin das „Weibliche“ in der ausgestellten Kunst unterstützt und meinten Metaphern einer Gebärmutter oder das Weiche, Sanfte zu erkennen – ein Narrativ, das Frauen im Kunstdiskurs und darüber hinaus bis heute anhaftet, ihre künstlerische Arbeit auf eine „weibliche“ Zuschreibung reduziert und sie in „andere“ Räume drängt.
Zwischen Sichtbarkeit und Zuschreibung
Neben den Kunstwerken wurden in „L'altra metà dell'avanguardia 1910-1940“ auch biografische Informationen und historische Kontexte präsentiert, um das Verständnis für die Herausforderungen und Errungenschaften der Künstlerinnen zu vertiefen. Zudem entstand 1982 ein ausführlicher Katalog, in dem Vergine ihre Recherchearbeit und kuratorische Perspektive nachvollziehbar werden ließ. Darin erkennt sie für sich, dass unter den ausgestellten Positionen ein Großteil Jüdinnen und queere Menschen waren sowie Künstlerinnen, die sich mit dem Sujet „Wahnsinn“ befassten. Vergine räumte den Personen also einerseits ihren Platz innerhalb der westlichen Kunstgeschichte ein, konnte sich dabei aber auch nicht ganz von dominierenden Zuschreibungen ihrer Zeit lösen.
Auch Carol Ramas Arbeit wurde lange Zeit unter dem Blickwinkel der Auseinandersetzung mit psychischen Erkrankungen und normabweichenden Körperdarstellungen betrachtet. Die Künstlerin selbst unterstützte das Narrativ durch den offenen Umgang mit ihrer Familiengeschichte und der psychischen Erkrankung ihrer Mutter, die sie auch in ihrem Werk verarbeitete – aber eben nicht nur. Bis heute hat Ramas Werk Mühe, sich von dieser einseitigen Betrachtungsweise zu befreien. Ihre künstlerische Arbeit wird immer noch zu häufig im Kontext eines Outsidertums geframed, sicher auch aufgrund ihrer fehlenden Kunstausbildung, denn Rama war weitgehend Autodidaktin.
Ein Einzelfall ist sie damit keineswegs: Kunst von Frauen wird generell zu oft als „anders“ und abweichend von Kategorien, die für die Kunst von „weißen“ Cis-Künstlern eingerichtet wurden, etikettiert. Eine nachträgliche Zuordnung in kunsthistorische Strömungen und Sujets wie sie in „L'altra metà dell'avanguardia 1910-1940“ erfolgte, labelte die teilweise erstmals institutionell ausgestellten Künstlerinnen sehr stark innerhalb ihrer jeweiligen kunsthistorischen Kontextualisierung. Das tat ihnen nicht immer gut und ist auch gegenwärtig eine komplexe Herausforderung. Fast immer bleibt in diesen Ausstellungsformaten die Frage zurück, inwieweit den Arbeiten die Möglichkeit einer universellen Lesbarkeit ermöglicht werden kann, um sie nicht allein in ein bereits artikuliertes, patriarchal geprägtes System einzubetten. Die alleinige Idee der Teilhabe am Ausstellungsdiskurs bleibt hier nicht ausreichend.
Dennoch hat die von Vergine kuratierte Ausstellung vielen Künstlerinnen und eben auch Carol Rama zu mehr Sichtbarkeit und Repräsentanz verholfen. So verwundert es nicht, dass Vergine 1985 auch die erste große Retrospektive von Rama am Museo d'Arte Contemporanea, Castello di Rivoli, kuratierte, wobei sie für das Ausstellungsdesign erneut mit Castiglioni kollaborierte. Ihre ungebremste Arbeit prägte den feministischen Ausstellungsdiskurs der Zeit maßgeblich mit. Umfangreiche Retrospektiven wie die von Carol Rama, die aktuell an der SCHIRN zu sehen ist, treten gewissermaßen in ihre Fußstapfen. Mehr noch: Sie ermöglichen, die Arbeiten aus heutiger Perspektive in all ihrer Vielschichtigkeit für uns zugänglich zu machen und auch abseits ihrer zeitlichen Einordnung zu reflektieren.