CAROL RAMA war eine der provokantesten Künstlerinnen des 20. Jahrhunderts. Mit ihren innovativen Materialexperimenten und unverblümten Darstellungen von Sexualität, Körperlichkeit und Tabuthemen ging sie bewusst an die Grenzen von Kunst und Gesellschaft. Hier sind 10 spannende Fakten über ihr Leben und Werk.
1. Frei, unangepasst und bestens informiert
Carol Ramas künstlerischer Werdegang zeugt von einer großen Kenntnis historischer und aktueller Kunstbewegungen, wenngleich sie die formale Kunstausbildung, die sie im Turin der 1930er-Jahre aufgenommen hatte, bereits nach kurzer Zeit abbrach. Vielleicht entwickelte die Ausnahmekünstlerin aus Turin auch deshalb ihre ganz eigene künstlerische Sprache. Ihr autodidaktischer Ansatz gab ihr die Freiheit, sich abseits akademischer Normen zu entfalten und neue, radikale Ausdrucksformen zu erschaffen, die in keine stilistische Schublade passten.
2. Zwischen Provokation und Grenzüberschreitung
Ein besonderer Wesenszug von Carol Ramas Kunst ist die Faszination für das Abseitige und das Spiel mit der Provokation. Bereits ihr Frühwerk bestehend aus Aquarellen der 1930er- und 1940er-Jahre, zeigt Szenen, die im katholisch und faschistisch geprägten Italien mit jeglichen Konventionen brachen: Momente in der Psychiatrie wurden ebenso zum Bildmotiv wie eine scheißende Frau oder Figuren, die masturbieren oder andere sexuelle Handlungen vollziehen. Rama selbst sagte einst: „Ich habe mich immer für Dinge und Situationen begeistert, die von anderen abgelehnt wurden.“ Kein Wunder, dass sie in der Forschung häufig in feministische Diskurse eingebunden wird – ihre Werke sind nicht nur eine Überschreitung gesellschaftlicher Tabus, sondern auch ein Aufbegehren gegen patriarchale Blickregime, die Frauen als passive Objekte begreifen.
3. Eine Meisterin der Selbstinszenierung
Carol Rama verstand es nicht nur, ihre Kunst zu inszenieren, sondern auch ihre eigene Person. Sie erzählte gerne Geschichten aus ihrem Leben, die eine biografische Deutung ihrer Werke nahelegen: Etwa, wenn sie in dem Werktitel „I due Pini“ den Namen der psychiatrischen Frauenklinik aufgreift, in der ihre Mutter temporär untergebracht war, oder Werke nach Familienmitgliedern benennt, deren tragische Lebensgeschichten sie bereitwillig schilderte. Doch oft bleibt unklar, ob ihre Anekdoten nun poetische Erweiterungen ihrer Kunst oder ihre Werke poetische Verarbeitungen ihres Lebens sind. Rama selbst sagte einmal, „alles und nichts“ sei „biografisch“. Leben und Werk, Wahrheit und Fiktion verschmelzen in ihrem Oeuvre – fast so, als hätte sie auch diese Grenzen gezielt überwinden wollen.
4. Eine skandalöse Legende der Zensur
Eine besonders eindrucksvolle, jedoch nicht verifizierte Anekdote der rebellischen Künstlerin betrifft ihre erste Einzelausstellung. Die Schau, die 1945 in Turin überwiegend erotische Aquarelle gezeigt haben soll, sorgte laut Rama für einen Skandal, der ihre sofortige Schließung zur Folge hatte. Die Darstellung nackter, teils fragmentierter weiblicher Körper in sexuellen Posen sei dem Vatikan zu Ohren gekommen, der sogleich eine Beschwerde eingereicht habe. Für die konservativen Behörden ein untragbarer Zustand, der letztlich in der Zensur ihrer Ausstellung gemündet sei. Erst über 30 Jahre später, 1979, wurden die provokanten Aquarelle erneut der Öffentlichkeit präsentiert – wieder in Turin und dieses Mal auch umfassend dokumentiert.
5. Stilistische Neuerfindung statt Stillstand
Carol Rama durchlebte viele künstlerische Phasen und erfand sich dabei immer wieder neu. Nahezu alle zehn Jahre änderte sie ihren Stil: Angefangen mit den frühen figurativen, erotischen Aquarellen und nahezu gesichtslosen Anti-Porträts, wendete sie sich in den 1950ern als Mitglied des Movimento Arte Concreta (MAC) zunächst der Abstraktion zu, bevor sie sich in den 1960ern und -70ern verschiedenen Materialexperimenten verschrieb. Diese wurden in den folgenden Jahrzehnten wiederum von einer Wiederaufnahme und Weiterentwicklung figurativer Bildmotive und Zeichnungen abgelöst.
6. Materialrevolution: Carol Ramas radikale Bricolagen und Gomme
In den 1960er-Jahren begann Carol Rama, mit industriellen Materialien wie Gummi, Metall, Puppenaugen und anderen Alltagsobjekten zu experimentieren, was ihr in der Kunstszene neue Aufmerksamkeit verschaffte. Ihre sogenannten „Bricolagen“ – ein Begriff, den ihr Freund Edoardo Sanguineti von Claude Lévi-Strauss übernahm und auf Ramas neue Werkreihe anwandte – erweiterten die klassische Collage durch den freien Einsatz von Sprühfarbe, Klebstoffen und montierten Objekten. Diese innovative Herangehensweise setzte neue Maßstäbe in der zeitgenössischen Kunst. In den 1970er-Jahren führte Rama ihre Materialexperimente fort, indem sie für die Werkgruppe „Gomme“ Fahrrad- und Autoreifenschläuche verwendete. Die biomorphen Formen und die hautähnliche Materialität verleihen den Werken eine sinnliche Qualität, die die strengen Kompositionen aufbrach und Rama als radikale Erneuerin etablierte.
7. Mitnichten eine Außenseiterin
Carol Rama war keineswegs eine Außenseiterin. Ein Blick auf die unzähligen Fotos in ihrem Studio offenbart die inspirierenden sozialen Kreise, in denen sich die Künstlerin bewegte: Neben einer Vielzahl bekannter Persönlichkeiten aus der italienischen Kunst- und Intellektuellenszene wie dem Architekten und Designer Carlo Mollino oder Komponisten Luciano Berio, ist auch Man Ray zu sehen. Die eigenwillige Künstlerin pflegte eine besondere Freundschaft mit dem berühmten surrealistischen Fotografen. Die vielen Gespräche, Briefe und gemeinsamen Reisen beeinflussten ihre künstlerische Entwicklung maßgeblich und wechselseitig.
8. Der lange Weg zum Ruhm
Obwohl Carol Rama innerhalb der italienischen Kunst- und Intellektuellenszene eine bekannte Größe war, erhielt sie mit ihrem vielseitigen Werk erst spät internationale Anerkennung. Ein Grund dafür waren patriarchale Strukturen im Kunstbetrieb, die es Künstlerinnen wie ihr lange erschwerten, größere Bekanntheit zu erlangen. Erst 2003, im Alter von 85 Jahren, erhielt sie den Goldenen Löwen der Biennale di Venezia für ihr Lebenswerk – zu einer Zeit, als der Diskurs über den weiblichen Körper und Geschlechterrollen an Bedeutung gewann und Rama bereits fünf Mal auf der Biennale ausgestellt hatte.
9. Eine Impulsgeberin für nachfolgende Künstler*innen
Carol Ramas Kunst dreht sich seit jeher um universelle Themen wie Sexualität, Lust, Krankheit und Tod. Mit ihrem radikalen, oft schonungslosen Blick auf diese Aspekte des Lebens stellte sie gesellschaftliche Normen infrage und schuf Werke, die ihrer Zeit voraus waren. Ramas Auseinandersetzung mit diesen Themen wurde zu einem wichtigen Impuls für jüngere Künstlerinnengenerationen, die ähnliche Fragen aus einem dezidiert feministischen Blickwinkel aufgriffen.
10. Ihr Atelier, ein Gesamtkunstwerk in der Vogue
Über 70 Jahre lang lebte und arbeitete Carol Rama in ihrer Dachgeschosswohnung in der Via Napione 15 in Turin. Ihr Zuhause war Atelier und Schatzkammer zugleich, voller alltäglicher Objekte, die sie in ihre Kunst integrierte. Mehr noch, die Wohnung wurde gewissermaßen selbst zum Kunstwerk, in dem sich ihr kreativer Geist frei entfalten konnte: Eine Trennung zwischen Kunst und Leben schien es auch hier nicht zu geben. Das Studio, das von der italienischen Vogue als Gesamtkunstwerk gefeatured wurde, avancierte zum touristischen Geheimtipp, nachdem es der breiten Öffentlichkeit 2019 erstmals zugänglich gemacht wurde.