Am 28. November liest Michelle Steinbeck in der SCHIRN aus ihrem Buch „Favorita“ (2024). Grund genug, der Romanautorin fünf Fragen zu stellen.
1. Michelle Steinbeck, Ausgangspunkt Ihres Romans ist ein Mord, der in Italien in den späten 1940er-Jahren an einer jungen Frau verübt wurde. Wie sind Sie auf diesen Kriminalfall aufmerksam geworden, können Sie uns etwas über den Entstehungshintergrund des Romans erzählen?
Michelle Steinbeck: Ich bin zufällig auf diesen Fall gestoßen, als ich in einem Schreibstipendium in Mittelitalien war. In einer abgelegenen Gegend auf dem Land, das nächste Dorf ist verlassen – ein, wie ich später herausfand, sehr beliebter Spot bei Geisterjäger*innen! Es ist also nichts los dort und alle kennen die Geschichte des Mordes. An der Straße im Wald ist ein Gedenkstein, auf den wurde ich direkt bei der Ankunft aufmerksam gemacht, dort wurde die Leiche der jungen Frau damals gefunden. Auch im Haus hängen Bilder von ihr. Mich hat sie fasziniert – ich wollte ihren Fall lösen und darüberschreiben. Also ging ich herum und fragte die Leute aus, und alle erzählten mir bereitwillig dieselbe Geschichte: Sie war die Schönste gewesen, fröhlich und offenherzig, alle waren in sie verliebt – deshalb musste sie sterben. Jemand war eifersüchtig: ihr Verlobter, ein Kriegsrückkehrer; der Gutsbesitzer, ein adeliger Schweizer; ein ausländischer Wäscheverkäufer... Diese Erzählung irritierte mich je länger ich mich mit ihr befasste und je mehr Berichte ich über den Fall fand, der ungewöhnlicherweise ein mediales Spektakel war. Während ich also über diesen Fall und Ort recherchierte, und immer neue und verrücktere Dinge herausfand, entwickelte sich der Stoff weg von einem klassischen Krimi zu größeren Fragen, etwa: Wie geht unsere Gesellschaft mit Gewalt gegen Frauen um? Wie geht Gerechtigkeit? Und auch: Kann ich die Toten schreibend zum Sprechen bringen?
2. Der Roman, der sich aus Fakten und fiktionalen Elementen zusammensetzt, fokussiert mehrere Generationen von Frauen in Italien und der Schweiz, die ganz unterschiedlich auf die patriarchalen Strukturen im Land reagieren. Wie würden Sie die verschiedenen Frauenfiguren in Ihrem Roman beschreiben, was verbindet und unterscheidet sie voneinander im Umgang mit dem Patriarchat?
Michelle Steinbeck: Die Erzählerin ist Fila, deren Großmutter aus Italien in die Schweiz eingewandert ist, nachdem sie ein uneheliches Kind bekommen hat – Filas Mutter. Um dem Kind die Schande zu ersparen, fuhr die Großmutter in die Schweiz, um dessen Vater zu heiraten, damit das Kind einen Namen bekommen und ein von der Gesellschaft anerkanntes Leben führen konnte. Der Schweizer Ehemann und Vater war ein Trinker, der italienische Migrant*innen verachtete und seiner Frau verbot, zu arbeiten. Magdalena, Filas Mutter, sträubte sich schon jung gegen jegliche Konventionen und verschwand ins Rotlichtmilieu. Ihre Tochter Fila wuchs bei der Großmutter auf, im Spannungsfeld dieser sehr verschiedenen Lebensarten. Als sie erfährt, dass ihre Mutter getötet wurde, macht sie sich auf den Weg, um mehr über deren Tod, aber auch über ihr Leben zu erfahren. So lernt sie erst gewisse verpönte Verhaltensweisen ihrer Mutter als Formen von Widerstand kennen.
3. Inwieweit war die Geschichte des Feminismus und der Rolle der Frau in Italien von Bedeutung für Ihren Roman?
Michelle Steinbeck: Es geht mir mehr um die Universalität von patriarchalen Strukturen. Der Roman spielt zwar in Italien, das bedeutet aber nicht, dass die Rolle der Frau dort besser oder schlechter ist als z.B. in der Schweiz oder in Deutschland. Die Femizid-Rate in der Schweiz ist auf die Bevölkerung gerechnet höher als in Italien – es wird hier aber gern darüber geredet, wie machoid Italien ist und wie verbreitet deshalb Gewalt gegen Frauen dort sei. Auch dieses Zuschreiben von männlicher Gewalt an andere „Kulturen" passiert überall. Ebenso universell und übergreifend sollte die Solidarität sein.
4. An einer Stelle Ihres Buches zeichnen Sie die mediale Berichterstattung rund um den ungeklärten Mordfall an Sisina nach. Wie würden Sie die Narrative der Presse in „Favorita“ beschreiben und in welchem Verhältnis stehen diese zur realen Berichterstattung über Femizide?
Michelle Steinbeck: Die Zeitungsartikel im Roman sind stark angelehnt an die reale Berichterstattung des Falles aus der Nachkriegszeit. Es finden sich die klassischen Narrative, die sich bis heute wiederholen: Mitleid und Rechtfertigung für den mutmaßlichen Täter; (Mit-)Schuld beim Opfer suchen; die erwähnte Ver-Anderung der Gewalt: „es muss ein Ausländer gewesen sein". Und natürlich Voyeurismus, die Lust an der Gewalt und dem Rätsel; wie E.A. Poe schrieb: „Es gibt nichts Poetischeres als den Tod einer schönen Frau". Schlussendlich zeigen die Artikel auch die Botschaft, die eine patriarchale Gesellschaft ihren Mädchen und Frauen zu verstehen gibt: Ihr seid niemals sicher.
5. Ihr Buch beleuchtet nicht nur patriarchale Gewalt, es wirft auch ein Schlaglicht auf die Geschichte und das Fortbestehen faschistischer Tendenzen in Italien. Was war Ihr Hintergedanke dabei?
Michelle Steinbeck: Der historische Faschismus prägt Italien bis heute. Das wurde mir einmal mehr bewusst, als ich diesen alten Mordfall recherchierte und auf eine faschistische Verschwörung der Nachkriegszeit stieß. Solche Treffen finden heute wieder statt, nicht nur in Italien. Dazu ist der Frauenhass im faschistischen Gedankengut tief verankert. Wie dieses Denken die breite Gesellschaft weiterhin formt, das wollte ich zeigen. Und auch, dass all das natürlich über die Ländergrenzen hinaus- und uns alle angeht – der Anführer der historischen Verschwörung wurde schließlich in einer Bank in der Schweiz verhaftet.