Der Begriff der Avantgarde wird heute auf vieles angewendet – woher er kommt und wie er sich über die Jahrzehnte veränderte, erklärt das SCHIRN MAGAZIN.

Nun, da die Ausstellung "STURM-FRAUEN – Künstlerinnen der Avantgarde in Berlin 1910-1932" dem Ende entgegen geht und wir mittlerweile genau wissen, wer wann wo den STURM ausgelöst hat, muss dringend noch eine Sache geklärt werden: Was heißt eigentlich Avantgarde? Und was machte die Künstlerinnen des STURMS avantgardistisch?

Avant|gar|de:
1. Gruppe von Vorkämpfern einer geistigen Entwicklung
2. (veraltet) Vorhut einer Armee

Duden

Zunächst zum Ursprung des Wortes: „Avantgarde“ setzt sich aus den Teilen Avant (=vor) und garder (=bewachen) zusammen und stammt aus der französischen Militärsprache. Die Avantgarde war die Vorhut, also eine kleine militärische Einheit, die dem eigentlich Heer immer voraus war, um Gelände zu sichern und um Aufklärung zu leisten. Seinem militärischen Kontext erstmals entlehnt wurde der Begriff in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von den frühsozialistischen Bewegungen in Frankreich. Den Saint-Simonisten etwa, um ihre Progressivität auf sozialen, politischen und künstlerischen Feldern zu proklamieren. Auch Lenin versuchte den Begriff für seine bolschewistische Partei zu nutzen, indem er sie als die „Avantgarde der Arbeiterklasse“ bezeichnete. Beide Bewegungen wähnten sich politisch ihrer Zeit voraus. 

Gegen das etablierte System 

Wenn wir heute das Wort "avantgardistisch" in den Mund nehmen, dann selten um die Fortschrittlichkeit der Politik zu loben. Die heutige Bedeutung des Wortes – Avantgarde = künstlerische Innovation – wurde entschieden von den künstlerischen Bewegungen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts geprägt, die gegen das etablierte Kunstsystem rebellierten.

Battle of Crécy between the English and French in the Hundred Years' War, via Wikipedia

Den Anfang machten die Impressionisten, die ihre Ateliers verließen, um "en plein air" zu malen und die die Abwendung von den Akademien und den Blick ins echte Leben forderten. Zwar waren die Impressionisten ihrer Zeit voraus und somit avantgardistisch, doch zu unterscheiden sind sie an dieser Stelle von den historischen Avantgarden. Es war die darauf folgende Künstlergeneration, die den Impuls der Impressionisten weiter ausführte und perfektionierte: Die Rebellion gegen die akademische Kunst und der radikale Bruch mit den gesellschaftlichen Konventionen und deren Umgang mit Kunst. Diese sollte nicht länger in Museen präsentiert werden, sondern das gesellschaftliche Leben mitgestalten. 

Die Verherrlichung des technischen Fortschritts 

Eine der wichtigsten Avantgarde-Bewegungen waren die italienischen Futuristen, die sich 1909 mit dem "Manifesto del Futurismo" von Marinetti etablierten. Sie forderten nicht nur eine neue Beziehung zwischen Kunst und Gesellschaft, sondern den Bruch mit der Vergangenheit und eine komplette Erneuerung der Kunst. Die Futuristen verherrlichten den technischen Fortschritt, Geschwindigkeit, Simultanität, Kraft aber auch Aggressivität. Ihre Motive fanden sie in Bewegungsabläufen und im Licht, oft dargestellt in ihren Werken sind die Großstadt und der Verkehr, Maschinen, Autos, Züge und Flugzeuge oder Aspekte der Massengesellschaft.

Claude Monet, Impression, soleil levant, 1872, via Wikipedia

Umberto Boccioni, Visioni simultanee (Simultanvisionen), 1911-12, via Wikipedia

Auch außerhalb Italiens hatte der Futurismus seine Anhänger, dennoch feierte die Bewegung ihre großen Erfolge in Italien. In Deutschland verhalf Herwarth Walden der Bewegung zu Aufmerksamkeit. Kurz nach der Gründung seiner STURM-Galerie 1912 widmete er den Futuristen eine Ausstellung und sorgte dafür, dass sie auch im Ersten Deutschen Herbstsalon ein Jahr später mit 14 Bildern vertreten waren. 

Kunst soll jeden Winkel des Lebens beeinflussen 

Kaum eine Bewegung des frühen 20. Jahrhunderts hatte das Mitgestalten des gesellschaftlichen Lebens allerdings so verinnerlicht und so radikal umgesetzt, wie der Expressionismus, dessen inoffizieller Vertreter Herwarth Walden war. In der Malerei bestand die Rebellion gegen die institutionalisierte Kunst vor allem im Zerlegen und Sprengen des traditionellen Bildraumes, was die Kubisten schließlich auf die Spitze trieben. Aber wie der Futurismus blühte der Expressionismus bei weitem nicht nur in den Bildenden Künsten, sondern auch in Tanz, Theater und Film, in Literatur und Musik, in den Angewandten Künsten. Gerade das war für Walden der große Reiz: Kunst sollte jeden Winkel des Lebens beeinflussen und so das Leben zu einem allumfassenden Gesamtkunstwerk – das Stichwort der Epoche – stilisieren. Verwunderlich ist es daher nicht, dass ihn Künstlerinnen begeisterten, die die Kunst „alltagstauglich“ machten. Etwa Sonia Delaunay, die ihre typischen bunten Kreise auch auf Mode und Einrichtungsgegenstände übertrug, Alexandra Exter, die in der Hauptsache als Bühnen- und Kostümbildnerin bekannt war oder Lavinia Schulz mit ihren skurrilen Masken.

STORM Women, Exhibition view, Alexandra Exter, Polichinelle (1926), Schirn Kunsthalle Frankfurt 2015 © Photo: Norbert Miguletz
STORM Women, Exhibition view, Schirn Kunsthalle Frankfurt 2015, © Photo: Norbert Miguletz