VIDEO ART

AUS KLEIN MACH GROß

Unzählige Einzelteile, ihrer Individualität beraubt, gehen in einem neuen Ganzen auf – Thomas Bayrles Videoarbeiten erinnern an Weberzeugnisse, die erst durch das Zusammenfügen von Fäden und Stoffen ihre Form annehmen.

Von Daniel Urban

Was hätte der französische Erfinder Joseph-Marie Jacquard wohl gesagt, wenn man ihm erklärt hätte, dass seine bahnbrechende Weiterentwicklung des mechanischen Webstuhls aus dem Jahr 1805 nicht nur entscheidend zur Industriellen Revolution beitragen, sondern gar einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die Computerisierung des 20. und 21. Jahrhunderts haben würde? So hatte er doch für seinen Jacquardwebstuhl das in den Kinderschuhen steckende System der Lochkartensteuerung erstmals praxisreif gemacht: Der Webstuhl konnte nun automatisiert jedes denkbare Muster spinnen, das auf einer Lochkarte abbildbar ist. Das binäre System der Lochkarte fand später auch in die digitale Welt Eingang und wurde noch bis in die 1980er-Jahre zur Steuerung von Computern genutzt. Jacquard trennte so als erster die Software von der Hardware, wie es der Sozialhistoriker Hans G. Helms umschrieb.

Es erschien mir phan­tas­tisch, mit geome­tri­schen Faden-Elemen­ten Punkt für Punkt, Zeile für Zeile indi­vi­du­ell bauen zu können

Thomas Bayrle

Ende der 1950er-Jahre arbeitete der heutige Maler, Grafiker, Video-Künstler und ehemalige Städel-Professor Thomas Bayrle nach seiner Ausbildung zum Musterzeichner und Weber an eben diesem Jacquardwebstuhl: „Ich wollte Musterzeichner werden bzw. das Lochkarten-Schlagen lernen, um Muster „programmieren“ zu können. […] Es erschien mir phantastisch, mit geometrischen Faden-Elementen Punkt für Punkt, Zeile für Zeile individuell bauen zu können“, erklärte er 1995 im Interview dem Magazin Kunstforum. Wie Weberzeugnisse, die erst durch das Zusammenfügen von Fäden und Stoffen ihre Form annehmen, könnte man Bayrles Arbeiten - durch Programmieren und Bauen aus kleinsten Einzelteilen entstanden – seit den späten 1960er-Jahren beschreiben.

Unzählige Einzelteile, ihrer Individualität beraubt, gehen in einem neuen Ganzen, einer Art Kollektiv auf. So bilden in dem Maschinenobjekt „Mao“ von 1966 hunderte kleine Figuren die von Bayrle sogenannte neue „Superform“: das Porträt des damaligen Führers der chinesischen kommunistischen Partei, Mao Tse-tung. Thomas Bayrle arbeitete so, stets ausgehend vom Grafischen, mit Lithografie, Radierung, Siebdruck sowie verschiedenen Fototechniken, bevor er sich ab 1980 in gleicher Weise auch der Videotechnik widmete.

Thomas Bayrle, Mao, 1966, Nationalgalerie, Foto: Axel Schneider / © VG Bild-Kunst, Bonn 2019, Image via freunde-der-nationalgalerie.de

SUPERSTARS

Teaser zu einer Videoarbeit Thomas Bayrles

In der Double Feature-Ausgabe im November werden nun vier seiner Videoarbeiten aus den 1990er-Jahren zu sehen sein: „Gummibaum“, „Sunbeam“, „Superstars“ (jeweils 1993/94) und „Dolly Animation“ (1998). In „Superstars“ mappt Bayrle mittels computergestützter Technologie aus kurzen Film- oder TV-Loops, zehntausendfach nebeneinandergestellt, die Gesichter derjenigen, denen er die Loops zuvor gezeigt hatte. Sie werden gewissermaßen zu Superstars – überlebensgroße, unwirkliche Wesen. In „Dolly Animation“ wird eine ähnliche Technik genutzt: hier besteht das gemappte Schaf jedoch aus Einzelbildern von einem Priester, der vor einem Altar kniet, und Bildern des wohl titelgebenden Klon-Schafs Dolly.

Vergrößerte Poren, gemappte Bilder

In beiden Arbeiten umkreist die Kamera in stetigen Zoombewegungen die wabernden Wimmelbilder: Bayrle vergrößert immer wieder die einzelnen Poren der gemappten Bilder, die kurz den Blick auf die einzelnen Loops freigeben, bevor wieder das virtuelle Gesamtbild sichtbar wird. In „Gummibaum“ hingegen projiziert der Künstler Aufnahmen von spielenden Kindern auf die Blätter eine Pflanze, als seien sie umherirrende Blattläuse. Jenes Gewächs taucht nun seinerseits wieder in „Sunbeam“ auf, wird hier jedoch mit einer Parkplatzszene im sich wiederholenden Dauerloop bespielt. Gleiches Prinzip auf der Tonebene: Das laute Türenschlagen aus den gezeigten Sequenzen wiederholt sich stetig und entwickelt gerade in „Sunbeam“ in seiner Überlappung eine rhythmische Dringlichkeit, die immer wieder zu bersten droht.

Thomas Bayrle, Sunbeam, 1993/94, Filmstill © Thomas Bayrle
Thomas Bayrle, Gummibaum, 1993/94, Filmstill © Thomas Bayrle

Das Individuum ist der Faden, die Masse ist der Stoff. Teilchen bilden Teile und Teile bilden Superteile im Satz

Thomas Bayrle

Mit der sehr spezifischen Anordnung wie auch konstanten Wiederholung der Myriaden von Bildern entstehen neue „Superformen“, oder eher neue „Superbilder“. Der einzelne Sinngehalt der Loops scheint in diesen umstandslos aufzugehen, doch lässt Bayrle die Ursprungsbilder nie ganz aus den Augen. „Das Individuum ist der Faden, die Masse ist der Stoff. Teilchen bilden Teile und Teile bilden Superteile im Satz“, wie der Künstler selbst pointiert zusammenfasst.

Als weitere Filme hat sich Thomas Bayrle zwei Arbeiten des österreichischen Tausendsassas Peter Kubelka ausgesucht. Als Filmemacher hatte Kubelka unter anderem mit seinen metrischen Filmen aus den 1950er-Jahren die Grundlage des strukturellen Films der 60er- und 70er-Jahre gelegt. Gemeinsam mit Peter Kronlecher gründete er 1964 das Österreichische Filmmuseum, war in New York Mitbegründer der Anthology Film Archives und – wie auch Thomas Bayrle – Professor, später dann Rektor an der Städelschule in Frankfurt, wo er mit seiner „Klasse für Film und Kochen als Kunstgattung“ als Erster das Kochen an einer Kunsthochschule unterrichtete. 

Mit „Adebar“ (1957) und „Schwechater“ (1958) sind zwei Werke seiner metrischen Filmreihe zu sehen. Beide Arbeiten, nicht viel länger als eine Minute, waren ursprünglich als Werbefilme gedacht: der eine für das Lokal Adebar, der andere für die Schwechater Bierbrauerei.

Ausgangspunkt sind hier streng metrische Vorgaben: In „Adebar“ unterteilt die Musik das Bild, das tanzende Paare sowohl als Negativ wie als Positiv zeigt, in penibel strukturierte Sequenzen, die sich ihrerseits seriell wiederholen. In „Schwechater“ werden einzelne Bildframes in verschiedene Gruppen unterteilt, in deren Verlauf sich beispielsweise die Farbwerte langsam verändern, während das Bild feiernde und biertrinkende Menschen zeigt. Unschwer zu erraten, dass die Auftraggeber die künstlerisch experimentellen Arbeiten seinerzeit nicht als Werbefilme nutzen wollten. Die Brauerei Schwechater untersagte Kubelka gar die Aufführung der Arbeit auf der Weltausstellung in Brüssel und der Künstler sah sich so gezwungen, ein Exemplar des Films aus der Kopierwerkstatt zu stehlen.

Eine Reduktion des Kinos auf seine Essenz

Frames, Belichtung, Montage – Kubelka reduziert in „Adebar“ und „Schwechater“ das Kino auf seine Essenz, die er dann auf die große Leinwand projiziert. Man erkennt die Verwandtschaft zu Thomas Bayrles Arbeitsweise, die in den großen „Superformen“ immer wieder auf die kleinste Einheit zurückkommt, die ähnlich einem Atom das Große als Ganzes zusammenhält, das es natürlich ohne das Einzelne gar nicht erst geben kann.

Peter Kubelka, Schwechater, 1958, Image via sixpackfilm.com

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