Belinda Kazeem-Kamínskis Videoarbeit ist einem Brief von Yaarborley Domeï gewidmet. Das seltene Zeitzeugnis schildert nicht nur ihre Erfahrungen im Rahmen einer sogenannten Völkerschau, sondern offenbart bereits Ansätze, die heute als intersektional gelten.
Die ersten Sekunden herrscht nur vollständige Stille, bevor in Belinda Kazeem-Kamińskis „The Letter“ (2019) langsam ein tieffrequentes Dröhnen anschwillt, derweil das Bild schwarz bleibt. Es erklingt eine Stimme: „We have read your letter. Many years have passed and finally it has reached us”. Währenddessen gesellen sich nun höherfrequente Töne zum Brummen und werden zu einer komplexeren Harmonie verwoben. Der titelgebende Brief, auf den die Stimme rekurriert und der Ausgangspunkt sowie zentrales Element in der Videoarbeit darstellt, wurde 1896 von Yaarborley Domeï verfasst und in der Zeitung „Wiener Caricaturen“ veröffentlicht. Domeï gehörte zu einer Gruppe von Menschen, die zum Ende des 19. Jahrhunderts aus Westafrika nach Wien gebracht und dort innerhalb eines Tierparks im Rahmen einer sogenannten Völkerschau den Alltag eines imaginierten afrikanischen Dorfes nachstellen sollten.
Belinda Kazeem-Kamiński erfuhr zum ersten Mal mit 26 Jahren von diesen Zurschaustellungen, durch das Buch „Ashantee“ des österreichischen Schriftstellers und bekennenden Pädophilen Peter Altenberg. Das problematische Buch beschäftigte die Künstlerin eine lange Zeit: „Einerseits wird immer wieder betont, dass Peter Altenberg sich sehr kritisch zu diesen Zurschaustellungen verhält. Gleichzeitig ist er aber auch selbst ein regelmäßiger Besucher dieser Schauen, der eben genau diese Infrastruktur ausnutzt, um seine eigenen Exotismen, Rassismen und Sexismen und auch seine Neigung zu minderjährigen Mädchen auszuleben.“ Für ihre Arbeit „Ashantee, edited“ (2017–2021) kratzte sie buchstäblich alle mit Rassismus und Sexismus unterlegten Sätze und Passagen aus dem Text heraus, sodass lediglich die Namen der Darsteller*innen und einige Wörter der ghanaischen Ga-Sprache übrigblieben.
Spurensuche im ehemaligen Völkerkundemuseum Wien
In „The Letter“ öffnet sich nach der Eingangssequenz die Linse der Filmkamera und gibt das Bild auf einen länglichen Gang innerhalb eines Gebäudes frei. Drei Personen, die die Wiener Künstlerin, Autorin und Wissenschaftlerin als sogenannte Empath*innen beschreibt, schreiten den Gang entlang, ziehen sich schwarze Handschuhe an und betreten schließlich ein Zimmer. Gedreht wurde der Film im Archiv des Weltmuseums Wien, in dem ehemals das Völkerkundemuseum untergebracht war.
Die drei Personen scheinen sich dort sich auf die Suche nach den Spuren von Yaarborley Domeï zu machen, öffnen die unzähligen Schränke und Schubladen des Archivs und spüren ihr im wahrsten Sinne des Wortes nach. Auf der Tonspur erklingen schließlich, wie neu zu Leben erweckt, Teile des titelgebenden Briefs, vorgetragen in Ga. In diesem teilte die Frau aus Westafrika seinerzeit den weißen Menschen unvermittelt mit, was sie über sie denkt. „Ich finde an diesem Brief sehr interessant, dass Yaarborley Domeï eine Perspektive artikuliert, die wir heute als intersektional bezeichnen. Sie zeigt die Verschränkungen von verschiedenen Diskriminierungsformen auf und spricht Rassismus und Sexismus an. Sie erzählt, wie vor allem weiße Männer auf sie reagieren, und sie thematisiert deren Blick“, fasst Kazeem-Kamiński das rare Zeitzeugnis zusammen.
„Fleshbacks“ (2021) lässt sich sodann als dreiteiliger Annotation zu „The Letter“ verstehen, in dem die Künstlerin das Geschehen aus dem Archiv heraus in den offenen Raum verlagert. Protagonist*innen bewegen sich durch den städtischen Raum, Großaufnahmen ihrer Gesichter werden gegengeschnitten mit archivarischen Fotografien derjenigen Menschen, die vor über 100 Jahren in Wien zur Schau gestellt wurden, bis Aufnahmen aus der ghanaischen Hauptstadt Accra das Bild nach und nach überlagern. Gegenwart und Vergangenheit treten so in eine Wechselbeziehung, die die Filmemacherin in dem Neologismus Fleshback zu fassen sucht: Das Wort beschreibe jenen „Moment, in dem sich Schwarze Menschen der gegenwärtigen Vergangenheit und auch dieser Fleischlichkeit bewusst werden […]: ihrer Geschichte, Degradierung, dem Umstand, dass sie zu Objekten gemacht wurden und weiterhin gemacht werden. Gleichzeitig erinnern diese Momente auch an Community, Zusammengehörigkeit, Widerstand und spezifische kulturelle Artikulationen.“
Über das Erbe kolonialer Vergangenheit
Als weitere Werke hat sich Belinda Kazeem-Kamiński die beiden Kurzfilme „No Archive Can Restore You“ (2020) von Onyeka Igwe und „You Hide Me“ (1970) von Nii Kwate Owoo ausgesucht. Onyeka Igwe begibt sich in ihrem Kurzfilm in die verfallenen Innenräume des ehemaligen Nigerian Film Unit-Gebäudes in Lagos, einer der ersten in Eigenregie betriebenen Außenstellen der britischen Propagandaproduktionsfirma Colonial Film Unit. In dort aufgefundenen, zuvor verschollenen Filmrollen, die aufgrund ihres Zustands nur noch schwer abgespielt werden können, hallt das Erbe einer kolonialen Vergangenheit nach. Nii Kwate Owoo gelang es 1970 für seinen Kurzfilm „You Hide Me“ die Museumsleitung sowie den gesamten Sicherheitsapparat des British Museum auszutricksen und so Zugang zu den unterirdischen Depots zu erhalten. Die dort von ihm abgefilmten wertvollen afrikanischen Artefakte, die in Plastiktüten und Holzkisten verstaut waren, lassen eine Ahnung vom Ausmaß des kolonialen Kunstraubs aufkommen, derweil das Museum sich auch im Jahr 2023 nach wie vor einer Restitution der Artefakte widersetzt.