Was hat es mit dem Motiv des Sees bei MELIKE KARA auf sich? Marthe Lisson begibt sich auf eine assoziative Spurensuche, stößt auf glückliche Schweine, naturwissenschaftliche Fakten und findet Antworten in der Kunstgeschichte.
Wenn ich an den See in der Kunst denke, erscheint zuerst folgendes Bild vor meinem inneren Auge: ein im dichten Schilfgras gelegener See, die nah am Wasser stehenden Bäume lassen ihn im Dunkel liegen. Aus dem Dickicht des Schilfs ragt ein einfacher Holzsteg ins Wasser und zwischen Steg und Wasseroberfläche, quasi in der Luft schwebend, mit perfekter Körperspannung für den Köpper, das wohl glückseligste Schwein der Kunstgeschichte.
Michael Sowas „Köhlers Schwein“ hängt seit über 20 Jahren in der Luft. Nicht vorstellbar, dass es jemals landen könnte. Doch nach anfänglicher Entzückung über diese Seeszenerie, fühle ich den skeptischen Blick der Limnolog*innen (Limnologie ist die Wissenschaft des Sees als Ökosystem) auf mir. Handelt es sich vielleicht um einen Teich? Schwer zu sagen, groß ist das Gewässer in Sowas Bild tatsächlich nicht. Eine häufig verwendete Definition des Sees – in Abgrenzung zum Teich, Weiher und Tümpel – besagt, dass ein See über zwei Meter tief sein muss, um seinen Namen zu verdienen. Ein Schwein ist nicht gerade leicht. Was, wenn das Wasser nicht tief genug ist? Kaum auszumalen, dass dieses Schwein jemals landet!
Mehr als zwei Meter Tiefgang
Ob MELIKE KARA jemals in einen See gesprungen ist, muss offen bleiben. Auch, wie tief ihre Installation „shallow lakes“ tatsächlich ist, die bis Mai in der Rotunde der SCHIRN präsentiert wird. Ich sehe die Gesichter der Limnolog*innen wieder vor mir. Andererseits, wen kümmert die tatsächliche Tiefe von Karas Arbeit, wenn diese zu wesentlich tieferen intellektuellen Ebenen führt, als zwei Meter jemals zulassen würden. „Shallow lakes“ ist komplex und besteht aus verschiedenen Elementen im Außen- und Innenbereich der Rotunde. Draußen auf dem Boden sind fünf 32-eckige flache Skulpturen installiert. Sie erinnern an Gewässer, kleine Seen oder große Seerosenblätter. Dazwischen, als wäre es Schilfgras, ragen fünf achteckige Pavillons in die Höhe, deren Stoffdächer bis in die erste Etage der Rotunde reichen und mit blassen Schwarz-Weiß-Portraits bedruckt sind. An den Metallstangen der Pavillons klettern kleine Gipsblüten empor. Im Innenraum hängen abstrakte Gemälde in grau, weiß, rot und rosa neben weiteren Portraits, als wären sie die Blüten der Installation, von den Schilfgras-Pavillons aus dem Wasser gehoben.
Kulturgeschichtlich über den See zu schreiben, ist überraschenderweise kein leichtes Unterfangen. Vielleicht steht mir meine Seeunerfahrenheit im Weg. Tatsächlich bin ich noch nie in einem See geschwommen und entsprechend auch noch nie in einen See gesprungen. Es hat sich einfach nicht ergeben. Und so bin ich mir unsicher, was ich eigentlich herausfinden möchte. Ein erster Anhaltspunkt: die Kunstgeschichte. Doch fluten Darstellungen von Seen nicht gerade auf mich ein. Frage ich im ersten Schritt die Suchmaschine meines Vertrauens, sind die Ergebnisse ernüchternd. Wenn überhaupt ein See angezeigt wird und nicht „die See“, dann Darstellungen in Bob-Ross-Ästhetik. Mein Bildschirm ist gekachelt mit neon-pastelligen, romantisch-verkitschten Seeansichten. Berge im Hintergrund, oder auch nur ein einzelner Berg mittig, sind beliebt. Die Landschaften sind meist menschenleer, nur eine Blockhütte oder Ruine am Ufer zeugen von (ehemaliger) Zivilisation. Bäume in herbstlichen Rottönen, Sonnen gehen unter und färben die Himmel rot, pink und orange. Milchige Monde reflektieren im Wasser, sofern der Nebel dies nicht verhindert. Wo ist Caspar David Friedrich, wenn man ihn braucht!
Eine kleine Kunstgeschichte des Sees
Nach einigem Suchen finde ich ihn bei Sotheby's. Dort wurde 2018 sein Gemälde „Landschaft mit Gebirgssee, Morgen“ (zwischen 1823-35 entstanden) für 2,5 Millionen Pfund verkauft. Eine freundliche Szene: Die Berge im Hintergrund sehen wir durch morgendliche Diesigkeit, am Ufer liegen noch einige Nebelschwaden. Im Vordergrund eine saftig grüne, hügelige Wiese, die noch nicht ganz vom Sonnenlicht erfasst ist. In der Mulde stehen drei Rinder (die zwei braunen genießen den Seeanblick, das schwarze Rind hat keinen Sinn für Wasser) und etwas erhöht links neben ihnen ein Wanderer oder Hirte. Typisch Friedrich, ein Mensch alleine mit der Natur. Eher untypisch erscheint nur das Sujet, war der Künstler dem Meer doch weitaus mehr zugetan.
In der Kachelansicht meiner Bildersuche sticht ein Werk heraus: Georgia O'Keeffes „Lake George“ aus dem Jahr 1922. Die dunkelblaue Silhouette einer Bergkette setzt sich gegen einen hellblauen Himmel ab. Im Vordergrund der See, in dessen glatter Oberfläche sich die Berge fast eins zu eins spiegeln. Die Komposition wird horizontal von einem schmalen Streifen grünen Ufers durchschnitten. Wir verbinden Georgia O'Keeffe stets mit der wasserarmen Landschaft New Mexikos, doch bevor sie dauerhaft dorthin zog, verbrachte sie über zehn Jahre lang ihre Sommer am Lake George, im US-Bundesstaat New York. Dort hatte die Familie ihres Partners Alfred Stieglitz ein Familienanwesen.
O'Keeffes etwas jüngerer Zeitgenosse Ansel Adams wurde ebenfalls für seine Landschaftsdarstellungen berühmt. In seinen Schwarz-Weiß-Fotografien, mehrheitlich der National Parks des US-Amerikanischen Westens, finden wir häufig Seen. Nicht selten scheint ihre einzige Funktion zu sein, die spektakuläre Landschaft, die sie umgibt, zu spiegeln: Mount Kaweah spiegelt sich im Moraine Lake, Mount Watkins im Mirror Lake im Yosemite. Gleichzeitig, aufgrund ihrer spiegelglatten Oberflächen, sind die Seen ein optischer Ruhepol inmitten einer abwechslungsreich-unruhigen Landschaft. Oder aber sie bilden einen kompositorischen Gegenpol zu gewaltigen Bergmassiven, wie in „Mount McKinley and Wonder Lake“ (1947). Im Hintergrund der schneebedeckte bullige Berg, im Vordergrund der See: eine leuchtend silberne Fläche inmitten tiefschwarzer Landschaft, kaum Struktur und ohne Tiefe, künstlich wirkend. Die Seen in Adams Fotografien stehen nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit und doch wären die Kompositionen ohne sie um ein Vielfaches ärmer. Sie sind nicht die Nebenrolle, sie sind der „supporting act“. Einige der größten Seen der Welt sind in den USA beheimatet, die Great Lakes im Norden des Landes, die teilweise nach Kanada hineinreichen.
Eingeschränkte Sicht zwischen Fakten und Kitsch
Weltweit gibt es 1,4 Millionen Seen, die größer sind als zehn Hektar. 900 000 davon liegen in Kanada, was es zum seereichsten Land der Welt macht. Weitere nahezu 200 000 liegen in Finnland – für den Rest der Welt bleibt nicht viel übrig. Der größte See der Welt ist das Kaspische Meer (393 898 km²), dessen Name zu einem kurzen Exkurs eines sprachlichen Phänomens einlädt: im Niederdeutschen genauso wie im Niederländischen bezeichnet man das, was eindeutig ein Meer ist, als See (Nordsee, Ostsee). Im norddeutschen Landesinneren heißen Seen wiederum Steinhuder Meer, Engelsmeer und Großes Meer. Sprache ist so spannend! Aber zurück: Der tiefste See der Welt ist der Baikalsee in Russland (1642 m), der höchstgelegene der Kratersee des Vulkans Licancabur (5920 m) auf der Grenze zwischen Bolivien und Chile. Der tiefstgelegene ist das Tote Meer (420 m unter dem Meeresspiegel) und der See mit dem klarsten Wasser der Rotomairewhenua / Blue Lake in Neuseeland mit einer horizontalen Sichtweite zwischen 70 und 80 Metern (zum Vergleich: destilliertes Wasser in Laboren hat eine Sichtweite von 80 m). Es gibt verborgene Seen, die Kilometer unter dem Antarktischen Eis liegen.
Eis könnte uns zurück in die Kunstgeschichte führen, in die niederländische Malerei des 17. Jahrhunderts, als zugefrorene Seen und das gesellschaftliche Leben auf ihnen ein sehr beliebtes Sujet waren. Wir könnten auch in den Symbolismus schauen, zu Ferdinand Hodlers Gemälden vom Genfer See und Thunersee. Gustav Klimt malte den Attersee und Akseli Gallen-Kallela den finnischen Keitele See. Es ist einfach, einzelne Darstellungen von Seen zu beschreiben und den Großteil der Internetergebnisse auf Kitsch zu reduzieren. Das ist oberflächliches Wellenschlagen. Tatsache ist, wie in der tropholytischen Zone des Sees – dort, wo das Wasser trüb wird, kaum noch Licht ankommt und Photosynthese unmöglich ist – treffe auch ich unter meiner gedanklichen Oberfläche auf eingeschränkte Sicht. Was suche ich? Ich möchte, dass mir der See etwas sagt. Aber was?
Das Archiv als metaphorischer See
Melike Karas „shallow lakes“ sagt mir nach einigem Überlegen einiges. Vor allem, warum er nur flach sein kann, niemals tief. Kara setzt sich in ihren Arbeiten mit ihren kurdisch-alevitischen Wurzeln auseinander. Sie arbeitet mit Archivmaterial und hat sich über die Jahre ihren eigenen Bildatlas aufgebaut, um die Kultur, Tradition und Geschichte ihres Volkes am Leben zu erhalten. Aus den Tiefen eines Archivs bringt sie Geschichten an die Oberfläche. Sind Archive nicht wie Seen? Umso tiefer man im See sinkt, umso dunkler wird es. Umso länger Geschichten in Archiven schlummern, umso größer die Gefahr, dass sie vergessen werden. Archive aber müssen leben, sie brauchen Licht und Sauerstoff, um weiterhin ihre Geschichten erzählen zu können. Metaphorisch gesehen, geht das nur in einem „shallow lake“, wo genug Licht und Sauerstoff vorhanden sind.
Und als sei der Damm gebrochen, erkenne ich mit Hilfe Ansel Adams noch etwas anderes. Schauen wir auf einen See, sehen wir nicht den See selbst, sondern die Reflektionen und Spiegelungen seiner Umgebung. Wir sehen nicht das geschlossene Ökosystem „See“. Die stille Wasseroberfläche ist wie eine Glasplatte, die nach außen hin spiegelt und im Verborgenen hält, was unter ihr liegt. Der See ist vielmehr das, was wir in ihn hineinprojizieren, selten gibt er Preis, was er eigentlich ist: eine Vertiefung in der Erde gefüllt mit, vereinfacht gesagt: Süßwasser (meistens), Wasserpflanzen, Algen, Plankton und im besten Falle Fischen. Wie unromantisch!
Ein kleiner See hat die perfekten Ausmaße, um unserer Imagination Nährboden zu bieten. An seinen Ufern treffen sich unsere Vorstellungen von Romantik, Idylle, Mystik, Fantastik und des Unheimlichen. Der Mond, die Blockhütte, Nebel und Ruinen – erinnern Sie sich? Die scheinbare Unendlichkeit des Meeres kann keine Idylle kreieren, der überschaubare See schon. Eine tobende See lehrt uns das Fürchten, befeuert aber nicht unsere Fantasie. Diese braucht die stillen Wasser, die kleinen Wasser, wie sie in der Rotunde stehen, denn die sind bekanntlich tief. Der schottische See Loch Ness wurde über die Jahrzehnte immer wieder mit der jeweils neuesten Technik gescannt. Es wurde kein Urwesen gefunden. Und doch, wir wollen die Mystik, wir wollen an Nessie glauben. Ich jedenfalls werde niemals auch nur einen Zeh in dieses Wasser halten. Und genauso wie Nessie ganz sicher existiert, schwebt über einem mir unbekannten See ein glückseliges Schwein.