Die SCHIRN widmet sich der Materialgeschichte und Ästhetik von Kunststoffen in der Bildenden Kunst. Die Ausstellung zeigt, wie sich der vielseitige Werkstoff Plastik vom Inbegriff für Fortschritt, Modernität, utopischen Geist und Demokratisierung des Konsums zu einer Bedrohung für die Umwelt wandelte.
Plastik ist überall. Es durchdringt die Gegenwart, ist billig, nahezu weltweit verfügbar und im Alltag omnipräsent. Ob hart oder flexibel, transparent, opak, gemustert, glatt, zart oder bunt, aus Kunststoffen können heute beinahe alle Dinge hergestellt werden. In den 1950er-Jahren feierten sie ihren großen Durchbruch und wurden zum Symptom und Symbol der Massenkultur – das „Plastic Age“ war geboren. Und auch in die Kunst hielten Kunststoffe aufgrund ihrer immensen gestalterischen Möglichkeiten früh Einzug, sie wurden schnell zu einem zentralen Material und Vehikel der Innovation.
Die Ausstellung PLASTIC WORLD versammelt rund 100 Werke von über 50 internationalen Künstler*innen, die auf unterschiedlichste Weise mit Kunststoff arbeiten, darunter Monira Al Qadiri, Archigram, Arman, César, Christo, Haus-Rucker-Co, Eva Hesse, Hans Hollein, Craig Kauffman, Kiki Kogelnik, Gino Marotta, James Rosenquist, Pascale Marthine Tayou und Pınar Yoldaş. Sie macht deutlich, wie sich der erfolgreiche vielseitige Werkstoff Plastik in seiner kurzen Geschichte vom Inbegriff für Fortschritt, Modernität, utopischen Geist und Demokratisierung des Konsums zu einer Bedrohung für die Umwelt wandelte.
Künstliche Paradiese vs. Umweltpolitische Problemstellungen
Auf der Suche nach dem Neuen experimentierten verschiedenste Kunstbewegungen mit den jeweils aktuell verfügbaren Stoffen wie Plexiglas, Styropor, Silikon, Vinyl oder Polyurethan und industriellen Fertigungstechniken. Die Pop Art feierte im Konsumrausch der Zeit das neue künstliche und günstige Material in seiner bunten Brillanz und seinen leuchtenden Farben, während Künstler*innen im Umfeld der italienischen Arte Povera wie Gino Marotta mit der sprunghaften Verbreitung industrieller Werkstoffe in der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre das Verhältnis von Natur und Künstlichkeit erkundeten und traditionelle Konzepte mimetischer Naturdarstellung unterliefen. Aus Acrylglas fügte Marotta mit spielerischer Leichtigkeit sein künstliches Paradies „Eden Artificiale“ (1967–1973) zusammen, eine modulare und keimfreie Nicht-Natur.
Das genaue Gegenteil ist die ästhetische Strategie des Arte-Povera-Künstlers und Umweltaktivisten Piero Gilardi, der mit seinen „Tappeti“ Ausschnitte aus der Natur nachbildete. Sie bestehen aus Polyurethanschaum, erscheinen täuschend echt und sind mit dem bloßen Auge kaum als künstlich zu enttarnen. In perfekter Mimikry verweisen sein artifizieller Strand „Spiaggia“ (1979) oder der synthetische Dschungel „Palmeto“ (1987) nicht zuletzt auf umweltpolitische Probleme
Utopien im Space Age
Weltraumforschung, Raumfahrttechnologie und nicht zuletzt die Mondlandung selbst hinterließen einen tiefen Eindruck in der Popkultur, dem Design und dem utopischen Geist der 1960er-Jahre. Das künstlerische Schaffen und die experimentellen Architekturen des Space Age sind bestimmt von Schwerelosigkeit, Mobilität, Flexibilität und nicht zuletzt dem Arbeiten im Kollektiv. Bei visionären Modellen wie der „Klimakapsel Air Hab“ (1966) von Archigram geht es um die Idee, nicht um die Ausführung. Die assoziativen Bildmontagen mit einer gewisse Nähe zur Pop Art wie etwa „Instant City, Glamour“ (1969), publizierte die britische Gruppe ab 1961 im Magazin Archigram. In Österreich öffneten Coop Himmelb(l)au und Hans Hollein mit temporären Architekturen neue Wege der Wahrnehmung und Kommunikation. Holleins aufblasbares „Mobiles Büro“ (1969), eine bewegliche Raumhülle aus Kunststoff, verspricht eine neue Körpererfahrung im urbanen Raum. Wegweisend in der Reihe innovativer Entwürfe und bekannt für seine geodätischen Kuppeln war auch der US-Amerikaner Richard Buckminster Fuller, der ein systematisches Zusammenwirken von Technik und sozialen Aspekten unter Verwendung von neuen Materialien untersuchte.
Materialexperiment und Finish Fetisch
Die vielseitigen Form- und Gestaltungsmöglichkeiten der stetig wachsenden Familie der Kunststoffe regten Künstler*innen seit Mitte der 1960er-Jahre zu einer enormen Experimentierfreude an. Der französische Bildhauer César etwa realisierte Happenings mit Polyurethanschaum, den er fassweise über den Boden laufen und ein Eigenleben entwickeln ließ. Lynda Benglis arbeitete mit Latex und Polyurethanschaum und nutzte das Konzept der performativen Schüttung bei ihrer Werkgruppe „Frozen Gestures“, um aus der Interaktion ihres Körpers mit dem Material Kunstwerke wie „Untitled“ (1969) entstehen zu lassen. Heute hat sich die Palette der Werkstoffe vervielfacht. Das Frankfurter Künstlerinnenkollektiv HazMatLab (Sandra Havlicek, Tina Kohlmann und Katharina Schücke) nutzt für seine kreative Materialforschung ungewöhnliche Substanzen wie synthetischen Schleim, industrielle Nagellacke, aber auch das 3D-Druck-Verfahren wie in der Skulptur „Coral Cluster" (2021/22).
Die plakative Künstlichkeit, die glatte Oberfläche und die leuchtende bis zarte Farbigkeit von Plastik inspirierten im Kalifornien der späten 1960er-Jahre auch die sogenannten Finish Fetish Artists wie Craig Kauffman. Seine minimalistischen Objekte aus transluzenten und transparenten Materialien erhalten durch ihre perfekten, glänzenden, beinahe feucht schimmernden Oberflächen eine nahezu sensuelle Qualität. Die makellose Glätte ihrer Oberflächen zeichnet auch die Skulpturen von Berta Fischer aus, die wie „Nironimox“ (2023) in Transparenz und Leichtigkeit im Raum schweben. Der amerikanische Objektkünstler Paul Thek schließlich konfrontiert in seinen „Technological Reliquaries“ spannungsreich die organische Textur eines eingeschlossenen verrottenden Fleischstücks aus Wachs mit der Glätte des umschließenden schrillen neonfarbenen Behälters aus Plastik in scheinbar unvergänglicher Künstlichkeit.
Ökokritische Positionen der Gegenwart
Der mit der fortschreitenden Ausbreitung von Plastik und der Bedrohung der Umwelt einhergehende nachhaltige Mentalitätswandel der Gesellschaft spiegelt sich in ökokritischen Werken einer jüngeren Künstler*innengeneration wider. Monira Al Qadiri befasst sich in ihrem Werk mit der Dominanz der Ölindustrie, die ihr seit ihrer Kindheit in Kuwait vertraut ist. Sie nimmt unterschiedliche Formen von Ölbohrköpfen zum Vorbild für Skulpturen wie „Orbital 1“ (2022), die mit ihrer irisierenden, perlmuttähnlichen Oberfläche wie majestätische Kronen und Trophäen des Anthropozäns erscheinen. Der dänische Künstler Tue Greenfort wirft in seiner jüngsten Arbeit „Fungi Decomposition“ (2023) den Blick auf einen Pilz mit dem Namen Pestalotiopsis microspora, der im Amazonas-Regenwald entdeckt wurde und in der Lage ist, Plastik zu verstoffwechseln und in organisches Material umzuwandeln.
Im Rahmen der Ausstellung ist im Senckenberg Naturmuseum Frankfurt zudem „An Ecosystem of Excess“ (seit 2014) der Künstlerin und Wissenschaftlerin Pınar Yoldaş zu sehen. Im Zentrum ihrer Arbeit stehen die Ozeane – einstmals Ursprung der Evolution und heute stark von Plastik durchseucht. Ausgehend vom Pacific Garbage Patch kreiert Yoldaş ein posthumanes Ökosystem. Es umfasst „spekulative Wesen“, die Kunststoffe verstoffwechseln.