Pilze und Plastik erscheinen höchst unterschiedlich, und doch verbindet sie mehr, als man glaubt: So wie Kunststoffe einst als Lösung für eine ganze Reihe menschengemachter Probleme angepriesen wurden, spricht man heute über die weltrettenden Superkräfte von Pilzen. Ein Blick auf die Verheißungen von Plastik und Pilzen – und ihre potenziellen Fallstricke.

Unser Leben ist unauflöslich verwoben mit der Allgegenwart von Pilzen und Kunststoffen. Ins Auge fallen vor allem die Unterschiede zwischen ihnen – so sind die einen lebendig, die anderen nicht –, doch haben sie mehr gemeinsam, als man erst meint. Beide sind regelrechte Alchemisten, die sich selbst und die sie umgebende Welt umgestalten und somit neue Realitäten und Möglichkeiten schaffen. Die Geschichte unseres Planeten wurde maßgeblich durch die Aktivität von Pilzen ebenso wie die Gegenwart von Kunststoffen geprägt. So fraßen sich Pilze vor einer Milliarde Jahren durch das Felsgestein der Erdoberfläche, hinterließen organische Stoffe und bereiteten damit den Weg für das Leben, um aus dem Wasser an Land zu gelangen. Pilze finden sich überall um uns herum, auch wenn wir uns dessen nicht immer bewusst sind. Dieses lebendige und umfassende Reich von Millionen vernetzter Arten sorgt auch heute noch dafür, dass das Leben an Land möglich ist, denn sie bauen organische Substanzen ab, fördern den Nährstofftransport zwischen Pflanzen, bilden immer wieder aufs Neue Grundlage und Voraussetzung für das Leben auf der Erde. 

Mit der Erfindung des ersten Kunststoffes wollte man das Dilemma der kostspieligen und nur begrenzt vorhandenen Ressourcen lösen, die aus mehr-als-menschlichen Lebewesen hervorgegangen sind. Kunststoff wurde nach seiner Erfindung 1907 unter den Namen Bakelit hergestellt, doch die Massenfertigung synthetischer Polymere setzte erst während des Zweiten Weltkriegs ein. Seitdem ermöglichten sie zahlreiche Erfindungen, wie etwa preisgünstige Verpackungen für Fleisch und andere Lebensmittel. Der Gegenwart von Pilzen und Kunststoffen können wir uns nicht entziehen, sie dringen in jeden Bereich unseres Lebens ein. Auch im menschlichen Körper wimmelt es nur so von Pilzen, Bakterien und weiteren Mikroorganismen. Selbst Plastik ist bereits in unseren Körper gelangt, wie jüngste wissenschaftliche Untersuchungen belegen, die Mikroplastik in menschlicher Plazenta und Muttermilch nachgewiesen haben.

Bakelite Billardkugeln, Image via trift.org

Die Verheißungen von Plastik

Massengefertigter Kunststoff bot in den 1960er-Jahren ein Material, von dem es hieß, dass es viele Probleme der Welt lösen würde. Dank ihm konnten beispielsweise Lebensmittel in preisgünstigen und leichten Verpackungen seriell konfektioniert, transportiert und weltweit vertrieben werden. Es gab viele Hoffnungen für den neuen Werkstoff und die unbegrenzten Möglichkeiten, die er versprach. Und wie die Ausstellung „PLASTIC WORLD“ deutlich macht, griff auch die Welt der Kunst das neue Material auf, um die kühnsten Fantasien von Künstler*innen zum Leben zu erwecken. Kunststoff lässt sich in praktisch jede Form bringen, und genau das taten die Menschen auch.

Heute ist eine Welt ohne Plastik kaum vorstellbar, denn Kunststoffe haben Einzug in fast jeden Bereich unseres Lebens gehalten – sie dienen als Behälter, um Wasser zu transportieren und zu verkaufen, werden in unsere Kleidung eingewebt, in unsere Technologie eingearbeitet, sind aus der Lebensmittelindustrie nicht mehr wegzudenken, binden unsere Haare zurück und richten unsere Zähne. Aufgrund seiner komplexen Molekularstruktur ist Kunststoff jedoch extrem schwer abbaubar, und so stapelt sich der Plastikmüll immer höher. Kunststofffabriken leiten giftige Chemikalien in Flüsse und Bäche, Flaschen und anderer Abfall aus Plastik bilden Müllinseln in den Ozeanen, und Mikroplastik verschmutzt fast alles um uns herum – einschließlich der Menschen. Wir haben uns an ein verheißungsvolles Material gebunden, bei dem etwas aus dem Ruder läuft.

Christo & Jeanne Claude , Look, um 1965 © Sammlung Karin und Uwe Hollweg, Weserburg Museum für moderne Kunst, Bremen, ©VG Bild-Kunst, Bonn 2023
Die Verheißungen der Pilze

Pilze wiederum sind ein eigenes biologisches Reich und umfassen auch die Schimmel- und Hefepilze. Ähnlich wie Äpfel am Baum bilden viele Pilzarten Fruchtkörper aus, die teilweise als Speisepilze Verwendung finden. Pilze sind jedoch überall: Wir atmen ihre Sporen ein, wenn wir durch Wälder, aber auch durch Städte spazieren, denn bei jedem Schritt treffen unsere Füße auf Myzelfäden. Unter Myzel versteht man das wurzelartige System mancher Pilzarten, bestehend aus mikroskopisch kleinen Fäden, die wie ein feines Gespinst den Boden durchziehen. Pilze sind lebendig und kreativ, sie können unsere Anwesenheit spüren und tauschen sich aktiv mit den Welten der umgebenden Flora, Fauna und weiterer Pilze aus. Seit dem Jahr 2007, als pilzbasierte Materialien erstmals als umweltfreundliche Alternative zu Kunststoffen vorgestellt wurden, experimentieren zahlreiche Erfinder*innen und Künstler*innen mit Myzel als innovativem Werkstoff und als neue große Hoffnung im Zeitalter der menschengemachten Klimakatastrophe. Es gibt scheinbar unendlich viele Möglichkeiten für die Verwendung von Myzel und Fruchtkörper: als synthetisches Leder in der Modebranche, als neuer Bau- und Gestaltungswerkstoff, als biologisch abbaubares Verpackungsmaterial, zur Herstellung von Robotern, die damit in gewisser Weise lebendig werden und ein Bewusstsein erlangen, zur Schädlingsbekämpfung, zur Beseitigung von Ölverschmutzungen, in der Medizin, zur Förderung der geistigen Gesundheit und nicht zuletzt für die biologische Zersetzung von Kunststoffen. In ihrer ganzen Genialität bieten Pilze Lösungen für eine Vielzahl von Schwierigkeiten, mit denen wir heute uns inmitten der Klimakatastrophe des spätkapitalistischen Zeitalters konfrontiert sehen.

MY-CO SPACE by MY-CO-X © tinyBE #1, Foto: Wolfgang Günzel, Image via tinybe.org

Hungriger Pilz

Zum Beispiel ist ein hungriger Pilz überaus nützlich, wenn es um die Problematik der Plastikverschmutzung geht. In seinem viral gegangenen TED-Talk behauptet der Mykologe Paul Stamets, Pilze wären imstande, die Welt zu retten. Eine Superkraft der Pilze, die jedenfalls weltrettendes Potenzial hat, ist ihre Fähigkeit zur Mykoremediation – einem Verfahren, das sich spezielle Eigenschaften der Pilze, etwa ihren Appetit, für den Abbau von Umweltschadstoffen zunutze macht. Immerhin prägt ihr Appetit die Welt seit Abermillionen Jahren. Pilze haben nicht nur das Leben an Land ermöglicht, sondern auch die Bildung fossiler Brennstoffe erheblich verlangsamt, indem sie vor etwa 300 Millionen Jahren die Fähigkeit entwickelten, das Molekül Lignin – es bewirkt die Verholzung von Zellen – in umgestürzten Bäumen zu verdauen. Zuvor türmte sich Totholz endlos aufeinander. Irgendwann versteinerten die umgefallenen Bäume dann und verwandelten sich in die von uns heute genutzten fossilen Energieträger. Pilze haben eine lange Geschichte der Metabolisierung fossiler Brennstoffe und ihrer Derivate. Da Kunststoffe noch relativ jung sind, stehen die großen Zersetzer auf unserem Planeten noch im Begriff, sich die Fähigkeit ihrer Verstoffwechslung anzueignen, wobei es normalerweise Tausende Jahre dauert, bis sie dahinterkommen, wie das mit dem Abbau der neuen Substanzen funktioniert.

Tue Greenfort: Fungi Decomposition, Installationsansicht, © Schirn Kunsthalle Frankfurt 2023, Foto: Norbert Miguletz

Einige wenige Pilzarten haben allerdings schon unter Beweis gestellt, dass sie die komplexen molekularen Strukturen langlebiger Kunststoffe aufnehmen und binnen weniger Wochen oder Monate in ihre Grundbestandteile zerlegen können. So verfügt etwa der Austernpilz Pleurotus osteratus über die bemerkenswerte Fähigkeit, Plastik zu zersetzen und dennoch essbar zu bleiben. Pestalotiopsis microspore ist ein weiterer Plastik fressender Pilz und wurde von einer Forscher*innengruppe der Yale University im Amazonas-Regenwald Ecuadors entdeckt.

Der dänische Künstler Tue Greenfort hat ihn in seinem jüngsten Werk „Fungi Decomposition“ aufgegriffen, das derzeit in der SCHIRN zu sehen ist. Diese Pilze können Kunststoff zwar verdauen, aber es gelüstet sie nicht unbedingt danach. So berichtet der Mykologe Jasper Degenaars, dass die Mikrosporen von Pestalotiopsis keinen besonderen Heißhunger auf Plastik haben und sich lieber über alles andere in ihrer Umgebung hermachen. Wenn wir aber die Fertigung von Kunststoff nicht einstellen, dann verlangen wir von Pilzen, in Zukunft kontinuierlich den Müllschlucker für uns zu spielen.

Tue Greenfort: Fungi Decomposition, Installationsansicht, © Schirn Kunsthalle Frankfurt 2023, Foto: Norbert Miguletz
Anthropozentrische Lösungen für anthropozentrische Probleme

Erfinder*innen haben die ersten Kunststoffe entwickelt, um den steigenden Kosten für das Elfenbein von Elefanten zu begegnen, deren Stoßzähne zu Billardkugeln und Klaviertasten geschnitzt wurden. Materialien auf Kunststoffbasis wie etwa Kunstleder haben unzähligen Tieren das Leben gerettet, die wegen ihres Elfenbeins oder ihrer Haut ansonsten abgeschlachtet worden wären. Gleichzeitig hat aber das Aufkommen von Kunststoff dem gesamten Leben auf der Erde erheblich geschadet. Heute besinnen wir uns bei der Suche nach Lösungen für unser Plastikdilemma auf die mehr-als-menschliche-Welt zurück, und da lohnt es sich, darüber nachzudenken, welche unbeabsichtigten Folgen der Einsatz von Pilzen haben könnte. Wenn wir sie mit demselben anthropozentrischen Nützlichkeitsdenken für uns einsetzen, wie es seinerzeit mit Kunststoff der Fall war, ohne dass sich etwas Grundlegendes ändert – indem wir einfach weiter riesige Mengen Plastik produzieren –, dann werden uns die Verheißungen von Pilzen nicht aus dem Problemkreis unserer Plastikverschmutzung herausführen.

Billardkugeln aus Elfenbein, Image via trift.org

 Die Begeisterung für das Potenzial von Pilzen ist in jedem Fall begründet. Kooperationen mit ihnen sind vielfältig, zukunftsträchtig und von elementarer Bedeutung für unser Überleben, und bestimmt gibt es unzählige Möglichkeiten, an die wir noch gar nicht gedacht haben. Wenn wir jedoch am Status quo der Plastikherstellung festhalten und Pilze in kapitalistische Produktionsweisen einspannen, bei der eine Handvoll Unternehmen jede Menge Geld mit den Gefallen verdienen, die Pilze uns Menschen erweisen, werden auch die Probleme, denen sich dieser Planet und die Gesamtheit seine Bewohner*innen gegenüber sehen, fortbestehen. Im Hinblick auf unser Verhältnis zu diesem agentiven und gemeinschaftlichen Reich stellen sich mehrere Fragen: Wie können wir unsere Beziehung zu Pilzen mit ihren unglaublichen materiellen Möglichkeiten und Fähigkeiten zur Rettung der Welt mehr im Sinne eines reziproken Gebens und Nehmens gestalten? Wie können auch wir uns für die Welt der Pilze nützlich machen?

PLASTIC WORLD IN 3D

PLASTIC WORLD

22. JUNI – 1. OKTOBER 2023

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