Kunst will mit den Augen gesehen werden. Trotzdem nimmt der Mund als vielseitiges Wahrnehmungsorgan in der Kunst eine größere Rolle ein, als weithin angenommen. Wir begeben uns auf eine kulturgeschichtliche Exkursion in den Mundraum.
Rote Lippen soll man küssen
Die Lippen sind das erste sichtbare Element unseres multifunktionalen Mundwerks. Sie definieren seine äußere Erscheinung, prägen unser gesamtes Minenspiel, sind hochsensibel und sinnlich. Nicht umsonst wird dieser Bestandteil des Munds häufig mit einer Signalfarbe eingefärbt. Schon Nofretete hat um 1350 v. Chr. ihre Lippen rot geschminkt. Die erotische Wirkung der Lippen ihrer Musen inspirierte Künstler wie Man Ray, Salvador Dali oder auch Andy Warhol, sich dem Mund als Motiv künstlerisch anzunähern. Die Palette an Kussakten in der Kunst könnte dabei kaum vielfältiger sein: Angefangen bei dem leidenschaftlichen Kuss von Liebenden und erotischen Praktiken, über Küsse der Konvention und Inszenierung (z.B. der Begrüßungs-, Friedens- oder Bruderkuss), dem Kuss der Femme Fatale und dem Judaskuss, bis hin zum vernichtenden Kuss des Todes.
Feed me, baby!
Auch am Beginn unseres Daseins nehmen die Lippen eine zentrale Rolle ein, wenn sie im Moment des Stillens die lebensspendende Muttermilch einsaugen. Während dieser Fütterungs-Kuss die Zähne nur behutsam einsetzt, wird das Aussaugen des Anderen im Vampirismus hingegen zu einer lustvoll-schaurigen Variation – mit tödlichem Zahneinsatz. Analog zur Muttermilch spendet hier das Blut einer anderen Person die lebenserhaltende Kraft. Der im Mittelpunkt des Vampirismus stehende Akt bewegt sich dabei zwischen Liebeskuss und Todesbiss – eine Ambivalenz, die beispielsweise auch Edvard Munch zu seinem Werk „Vampir“ (ursprüngl. „Liebe und Schmerz“) inspirierte.
Vom Zähnefletschen und Zähneziehen
Öffnen sich die weichen Lippen, blitzt das hervor, was Hartmut Böhme als „das prägendste Machtinstrument des Menschen“ bezeichnet. Die Zähne spiegeln ihm zufolge in ihrer Glätte, seriellen Anordnung und Bedrohlichkeit das Wesen der Macht selbst wieder. Verbunden mit dem stärksten Muskel unseres Körpers würden sie dabei nicht nur unser Überleben durch ihren Anteil an der Nahrungsaufnahme garantieren, sondern zugleich als effektive Waffe dienen. Dabei war im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit der Verlust dieses wichtigen Instruments im Laufe des Lebens noch an der Tagesordnung. Der lebenslange Kampf um den Zahn- und Machterhalt hat ebenso wie das damit verbundene einsetzende Ideal gesunder, weißer Zähne Kultur- und Kunstgeschichte geschrieben. Beispiele dafür sind die Darstellungen der Heiligen Apollonia als Patronin der Zahnmedizin, Motive wie Caravaggios „Zahnzieher“ und verschiedenste Zahnveredelungen, die das Gebiss oftmals zum teuersten Schmuck eines Menschen machen.
Höllisches Verschlingen
Auch Monster Chetwynds Installation „Hell Mouth 3“ bleckt den Besucher*innen der SCHIRN aktuell seine Zähne entgegen. Dabei suggeriert das drollige Ungeheuer jedoch kaum Macht oder Bedrohung. Ganz im Gegensatz zu den traditionellen Höllendarstellungen, auf die es mit seinem Titel Bezug nimmt: Seit dem Mittelalter hat sich die biblische Beschreibung der Hölle als Schlund in fantasievollen Visionen und künstlerischen Formexperimenten niedergeschlagen. Die Hölle wurde in Werken, wie Hieronymus Boschs „Hölle“, Fra Angelicos „Jüngstem Gericht“ oder Pieter Bruegels d. Ä. „Dulle Griet“ als teuflischer Zyklus des Fressen-und-gefressen-Werdens imaginiert. In jenen Darstellungen treffen die verschlingenden Mäuler monströser Dämonen auf das Zähneknirschen und -klappern der verdammten Sünder*innen, wobei die Bildschöpfer*innen ihrer Angst und Neugierde gleichermaßen Ausdruck verleihen konnten.
Zunge zeigen
Hinter den Zähnen liegt die Zunge, ein multifunktionales Organ, mit dem der Mensch nicht nur tasten und schmecken, sondern auch sprechen kann. Oder – etwa beim Herausstrecken – auf andere Weise kommuniziert. Die Zunge ist extrem beweglich und sowohl an der Nahrungsaufnahme als auch am Stoffwechsel maßgeblich beteiligt. Selbst beim Riechen spielt sie nach heutigen Erkenntnissen eine wichtige Rolle. Mit diesen Fähigkeiten hat auch dieser Bestandteil des Mundwerks Bildgeschichte geschrieben, etwa im Kontext der antiken Mythologie. So wird die Gorgonenschwester Medusa häufig mit heraushängender Zunge gezeigt und als Bildthema im Zusammenhang mit der Typisierung von Frauen als Femme Fatale populär von Künstler*innen wie Wilhelm Trübner aufgegriffen. Dabei spielt die Mundhöhle, welche die Zunge beherbergt, als Übergangsraum zwischen Innen- und Außenwelt eine wesentliche Rolle für all jene Prozesse, in denen wir uns als Subjekt von der Außenwelt abgrenzen oder uns diese im wahrsten Sinne des Wortes einverleiben.
Auf den Geschmack kommen
Besonders in der zeitgenössischen Kunst finden das Tastgefühl und der Geschmackssinn der Zunge vermehrt Beachtung. Beim Riechen, Lecken und Schmecken zeigt sich der Mundraum als zentraler Ort unserer kontinuierlichen Selbst- und Fremdwahrnehmung. Die drei im Mund verorteten Sinne dienen Künstler*innen auf der Suche ihrem eigenen Wesen oder der Ontologie von Kunst als wichtiger Ausgangspunkt ihrer Erkundungen. Dabei bewegen sie sich stets zwischen den beiden Polen der lustvollen und abstoßenden Reize. So kann die Übertragung von Speichel beim Lecken genauso abstoßend sein, wenn sie aufgezwungen wird, wie sie sinnlich erfahren werden kann. Ein beißender Geruch kann ebenso qualvoll erscheinen, wie ein guter Duft in Verzückung versetzen kann. Und während ein exquisit zubereitetes Gericht höchsten Genuss bereitet (es mundet), reicht allein die Vorstellung von saurer Sahne oder einem Haar im Mund, um größten Ekel zu erzeugen. Der Mundraum beheimatet damit, wie Uta Ruhkamp feststellt, auch die Voraussetzung für die Grundlage der Ästhetik – das Geschmacksurteil – und wird in dieser Hinsicht in vielerlei Gattungen aufgegriffen: vom Stillleben mit seinen Gaumenfreuden und abstoßenden Szenen in der Genremalerei bis hin zu postmodernen Performance- und Videoarbeiten, wie Marilyn Minters „Green Pink Caviar“, in dem sie farbige Frauenmünder schleimige Flüssigkeiten von einer Scheibe ablecken lässt.
Ich war immer ganz fasziniert von den Mundbewegungen und von der Form des Mundes und der Zähne. [...] Ich mag sozusagen das Glitzern und die Farbe, die aus dem Mund kommt [...].“
Das Herz auf der Zunge tragen
Der ersten Geburt des Menschen folgt laut Böhme eine zweite Geburt aus dem Mundraum, die mit dem Erwerb der Sprachfähigkeit zusammenfällt. Dabei unterscheidet die Lauterzeugung den Mund am prägnantesten von den anderen Wahrnehmungsorganen des Menschen. Die Stimme ist essenzieller Bestandteil der subjektiven Identität, denn durch unser Flüstern, Lachen, Singen oder Schreien sind wir imstande, einen hochdifferenzierten Katalog an Lauten hervorzubringen und damit unser Selbst zu konstituieren. Wenn im Sprechakt das Innere des Menschen wortwörtlich veräußert wird, ist diese Psychodynamik der Mundhöhle auch in den Kunstkontexten historisierbar: Die Repräsentierbarkeit des Schreis als extreme Ausformung steht in einem engen Verhältnis zur Geschichte der Schönheit. Philosophen wie Hegel oder Lessing hatten den Schrei etwa aufgrund ihrer moralischen und ästhetischen Überlegungen als Motiv aus dem Kunstkanon kategorisch ausgeschlossen – der expressive Ausdruck von Emotionen galt ihnen als unschicklich. Erst mit den gesellschaftlichen Wirren und Fortschritten der Moderne konnten der Schrei und auch alle anderen Emotionen in Strömungen wie dem Expressionismus zum Ausdruck kommen und das individuelle Empfinden – das sich oft charakteristisch am und durch den Mund offenbart – zum Hauptmotiv eines Kunstwerks avancieren.