2020 entstanden vier Video-Lectures, in denen Elizabeth Price die Heterogenität, das Potenzial und die Relevanz des gotischen Chors für ihre künstlerische Arbeit bespricht. Was hat es mit dem Chor also auf sich und wessen Stimmen repräsentiert er?
Im Werk von Elizabeth Price kommt der Auseinandersetzung mit dem gotischen Chor eine besondere Rolle in Hinblick auf die künstlerische Methode einer mehrstimmigen Wissensreflexion und -produktion zu. Grundlage der Videoarbeiten sind Archivmaterialien, wie Fotografien, Architekturpläne, Videomaterial, Bücher und Grafiken, die mit sozialen Geschichten in Beziehung gesetzt werden sowie Soundtracks, die die Narrative grundlegend prägen. Auch arbeitet Price mit synthetischen Stimmen, die körperlos und polyphon, also nie alleine, auftreten und von animierten Texten begleitet werden. Das Neben- und Ineinander, das durch diese additive Methode des gezeigten Video- und Bildmaterials und synthetischer Voice-Overs entsteht, entwickelt sich zu einem komplexen künstlerischen Ordnungs- und Wissensgefüge. Verweise aus wissenschaftlichen Kausalitäten und visueller Nachvollziehbarkeit ermöglichen ein narratives Ganzes mit Raum für fiktive Erzählung.
Im Jahr 2020 entstanden vier Video-Lectures, in denen Price die Heterogenität, das Potenzial sowie die Relevanz des gotischen Chors für ihre künstlerischen Arbeit ausführlich bespricht. Hauptinteresse innerhalb dieser Beschäftigung ist die Versammlung (Assembly) in all ihren Facetten und Spannungen, seien es von Autoritäten veranlasste oder solche, die in emanzipatorischer Absicht entstehen; aber auch die Berücksichtigung von Formen, Ritualen und die Einbeziehung und Ausschließung bestimmter Personengruppen, die Versammlungen anhaften, spielen hier rein.
„The Woolworths Choir of 1979“
In „The Woolworths Choir of 1979“ erfährt der gotische Chor besondere Aufmerksamkeit. Bestehend aus drei sich überlappenden filmischen Sinnabschnitten, beginnt das Video mit einer fundierten filmischen Skizzierung anhand eines animierten 3D-Modells. Dem gotischen Chor haftet das Paradoxon an, dass in ihm die sozialen Körper eines Chors abwesend sind, dieser dennoch dafür gestaltet ist („A Choir with no Choir“). Das irritierende Moment durch Präsenz der Architektur und Abwesenheit eines Chors als körperliches, erzählendes Assembly – ursprünglich eine tanzende, singende Personengruppe; im antiken, dramaturgischen Chor eine, die vermeintlich die Perspektive der Gesellschaft repräsentiert und sich in das Geschehen einmischt, dabei vorausschauend und im Bewusstsein von Zuschauenden, diese einbezieht – nutzt Price für den Fortlauf der Narrative. Price schließt ein durch Schnipsen und Klatschen angekündigtes musikalisches Zwischenspiel daran an, das sich zu eben dieser tanzenden und singenden Gruppierung versinnbildlicht, dabei die körperliche Verlassenheit symbolisch auflöst und die Tragödie einleitet: den Brand des Kaufhauses Woolsworth in Manchester 1979.
Ausschnitte aus Fernsehberichterstattungen, Analysen sowie Zeug*innenberichte werden mit Videomaterial, das Auftritte von Popsängerinnen zeigt, montiert. Dabei wird die eindringliche Struktur des Popsongs, der von Wiederholungen sowie eingängigen Refrains und Lyrics geprägt ist, genutzt. Price charakterisiert den auftretenden Chor als offenbarend und begreift die Tänzerinnen und Sängerinnen als eine Erscheinung im digitalen Raum. Darin manifestieren sie sich als kollektive, emphatische Einheit, erzählen das Werk und finden Zuspruch für die Betroffenen und Ungehörten der Katastrophe.
Besonders nachvollziehbar wird Price kritische Methode in „A Gothic Choir Part 3“. Darin überführt sie symbolisch das Feuer des Kaufhausbrands in die Mitte des Chors zu Fuße der nach oben ansteigenden Chorreihen. Ihre Schlussfolgerung aus architektonischer Analyse und Reflexion institutioneller Strukturen führt sie zu der spekulativen Konklusion, dass innerhalb des hierarchischen Chorraums Frauen und Menschen mit sozioökonomischer Benachteiligung dem Brand eher zum Opfer fallen würden als vom System bevorzugte Personen(-gruppen).
Entgegen der Einsilbigkeit autoritärer Stimmen
Der Diskurs des Chors, der auch sein autoritäres und patriarchales Fundament mitdenkt, wird von Price durch den Einbezug der Popmusik kritisch reflektiert und zu Gunsten der nicht gehörten Perspektiven umgekehrt. Die weit rezipierte Annahme, dass der antike Chor, die breite Gesellschaft innerhalb der Erzählung repräsentiert, unterhöhlt Price. Wir wissen um die Dominanz der cis-männlichen, weißen, akademischen Perspektiven des kirchlichen sowie des antiken Chors und damit auch um die einseitige Gesellschaftsrepräsentation, die ihr zugrunde liegt. Popmusik trat ab den 1920er-Jahren in den USA auf und entwickelte sich als jugendliche Subkultur in der 1950er-Jahren in Großbritannien. Ihre Wurzeln hat sie vor allem in Musikrichtungen wie Jazz und Soul. Das Potenzial dieser Musikrichtung liegt auch darin, Werte und Haltungen einer Gesellschaft widerzuspiegeln. Zugleich hat Popmusik eine enorme Reichweite und Zugänglichkeit und war immer auch Medium für Protest, (Selbst-)Ermächtigung und Emanzipation. Price macht sich dies zu Eigen und verdeutlicht eine Position, die feministisch, klassenbewusst und wissentlich über rassistische Strukturen ist, wenn sie ihren Chor mit Popsängerinnen, wie The Shangri-Las, Donna Summer oder The Ronettes besetzt. Versammlung wird hier als institutionelle Struktur einerseits und als Zusammenkunft für Protest und Handlungsfähigkeit andererseits erfahrbar.
Das Ungehörte hörbar machen
Wie Price selbst erklärt, nutzt sie die Tanzsequenzen durch die physische Manipulation nicht animierter Artefakte und montiert und kombiniert darin hörbare synthetische Stimmen, die sie mit einer Software generiert. Diese sind abhängig von Inhalt, während Kontext und Stil variieren – manche sind autoritär, andere emanzipatorisch, entweder fiktiv oder von historischen Quellen getragen. Hierbei unterscheidet Price zwischen zwei Kategorien: zum einen Stimmen, die körperlos sind, weil sie institutionelle Entitäten und stimmloses Archivmaterial zum Sprechen bringen, die nur in Aufzeichnungen oder Dokumenten konstituiert sind; zum anderen jene, die körperlos sind, weil sie die Abwesenheit der Personen oder Gruppen deutlich machen, die innerhalb historischer Aufzeichnungen fehlen. Ihren Chor in „The Woolworths Choir of 1979“ ordnet sie der zweiten Kategorie zu und verdeutlicht den Anspruch, marginalisierte und ungehörte Stimmen innerhalb der Geschichtenerzählungen auszumachen und diese als lückenhaft anzuerkennen. Der inszenierte Chor beschwört im Gesang und in den Texteinblendungen, dass allumfassendes Wissen von Vielstimmigkeit getragen wird, also durch Offenlegung aller beteiligten Perspektiven – „WE ARE CHORUS/ WE KNOW“.
Die synthetischen Stimmen bestehen demnach auf ihre Vielstimmigkeit, die der Einsilbigkeit akademischer, patriarchaler Strukturen entgegenwirkt. Dadurch lassen sie den künstlerisch geschaffenen Möglichkeitsraum für Handlungsfähigkeit in Betrachtung auf die sozialen Geschichten erkennbar werden – und das in Form eines informellen Versammelns. Die Typografie lässt uns an Slogans aus Protesten denken, die eindringlich wiederholt werden. Die Nutzung von künstlicher Intelligenz für die Generierung dieser körperlosen Stimmen ist in Price´ Arbeiten überall zu finden. Price denkt die Relation ihrer figurativen und auditiven Perspektiven im Digitalen postmedial, im Sinne des Neuen Materialismus, der sich mit Koexistenz des Menschen zu Technologie, Natur und Umwelt befasst, wobei Price insbesondere das Miteinander von Menschen und künstlicher Intelligenz in den Blick nimmt. Die Stimmen bleiben keineswegs nur unreflektiert wiedergebende Wissensträger, denn sie offenbaren Haltung und Motivation ihrer Urheberschaft und entfachen oftmals eine poetische Erzählung, der Price ebenso eine politische Bedeutung beimisst.
Ein kritischer Blick auf institutionelle Wissensproduktion
In der architektonischen Skizzierung in „A Woolsworth Choir of 1979“ legt Price noch weitere Nischen offen, die im gotischen Chorraum erhöht angeordnet und für den Ahnenchor vorgesehen sind. In ihrer künstlerischen Forschung, wirft Price einen besonderen Blick auf Räume, die für institutionelle Versammlungen gestaltet sind, wie Komitee-, Gerichtsäle oder eben der Chorraum, und enttarnt darin Hierarchien und patriarchale Strukturen als charakteristisch und diesen Institutionen zu Grunde liegend. Den Ahnenchor beschreibt Price als geisterhafte Omnipräsenz von Autorität innerhalb von Institutionen und verweist auf ihre nachhaltige Wirkmacht, die auch gegenwärtige Institutionen des Wissens, wie Bibliotheken und Bildungseinrichtungen prägt. Viele von ihnen wurden von der Kirche be- und gegründet. Die Auseinandersetzung mit Architektur als eine künstlerische Methode erlaubt ihr, Instanzen der Institutionskritik zu inszenieren. Durch die digitale Belebung ungehörter Entitäten und Subjekte, die in den synthetischen Stimmen auszumachen sind, kommen diese in den Arbeiten als Kollektiv zusammen und lassen einen kritischen Blick auf institutionelle Wissensproduktion zu. Price selbst arbeitete in solchen Institutionen – eine objektive Sichtweise schließt sie dabei allerdings aus, denn Machtstrukturen bleiben stets aufrecht durch Einbeziehung von Personen, die darin machtlos und meist ungesehen bleiben.
Die Künstlerin macht den gotischen Chor als soziale Kulisse erlebbar, aus der sich Versammlungen nachzeichnen lassen. Dieser stellt einen Möglichkeitsraum dar, der besonders plausibel für das figurative Versammeln innerhalb der digitalen Videoarbeiten ist, in der Price soziale Strukturen hinterfragt. Das Wissen von Welt, insbesondere koexistenzielle Geschichte(n) werden von Price mittels Vielperspektive anhand einer kritischen Auseinandersetzung mit Versammlung reflektiert, die einerseits immer schon von Autoritäten genutzt wurde, anderseits auch wesentliches Werkzeug für ungehörte Stimmen ist, um Handlungsfähigkeit zu erlangen. Diese Dissonanz nutzt Price für ihre kritische Hinterfragung gegenwärtiger Wissensproduktion und verdeutlicht damit, dass (Un)sichtbarkeit Struktur und Geschichte hat.