Wandern, Spazieren, Flanieren: Warum wir gehen und was die Bewegung auf zwei Beinen für den Menschen bedeutet, wird immer wieder in Büchern thematisiert. Fünf Highlights.
„Ich möchte nie wieder spazieren gehen“, rief manch einer nach Ende des ersten Lockdowns im Frühjahr 2020 – und drehte in der ein paar Monate später folgenden zweiten Zwangspause erneut Runden durch die Nachbarschaft, um wenigstens ein bisschen in Bewegung zu bleiben. Menschen, die gegen die Pandemiemaßnahmen der Bundesregierung aufbegehren, treffen sich zu „Spaziergängen“, die nicht selten in gewalttätigen Tumulten enden. Noch nie war Fortbewegung zu Fuß derart politisch, könnte man denken. Doch das stimmt nicht.
Gehen als Zeichen der Armut
„Die Geschichte des Gehens ist eine ungeschriebene, verborgene Geschichte, deren Fragmente sich über Tausende beiläufige Passagen in Büchern und Liedern, Straßen und über nahezu aller Menschen Abenteuer verteilen. […] Wie Essen und Atmen auch, kann Gehen mit extrem verschiedenen kulturellen Bedeutungen aufgeladen werden, die sich vom Erotischen bis zum Spirituellen, vom Revolutionären bis zum Künstlerischen erstrecken“, schreibt Rebecca Solnit in „Wanderlust. Eine Geschichte des Gehens“. Ihre umfangreiche kulturhistorische Abhandlung, die im Jahr 2000 erschien, wurde 2019 erstmals in Deutsche übersetzt. Die Journalistin schlägt darin einen großen Bogen; angefangen bei Theorien zur Entstehung des aufrechten Gangs, über mittelalterliche Pilgerreisen und Wanderungen durch die Natur von Dichtern der Romantik bis hin zu zeitgenössischen Massendemonstrationen.
Dabei wird deutlich, dass der Mensch zwar bereits vor mehreren Millionen Jahren damit begann, auf zwei Füßen zu gehen, dass aber das Gehen an sich viele Jahrhunderte lang als Zeichen von Armut galt: Wer etwas auf sich hielt und Geld hatte, nutzte eine Kutsche, um von A nach B zu gelangen. Erst im späten 18. Jahrhundert, während des Zeitalters der Romantik, begannen Intellektuelle damit – Solnit beschreibt diese wegweisende Veränderung anhand des englischen Poeten William Wordsworth –, allein aus Vergnügen zu wandern und sich bewusst in der Natur aufzuhalten. Mit dem rasanten Wachstum der Städte während der Industrialisierung entstand Ende des 19. Jahrhunderts außerdem das Konzept des Flâneurs: Mit Hut und Stock und ohne festes Ziel schlenderte dieser durch die Straßen und wurde zur Grundlage für ein eigenes literarisches Genre – Charles Baudelaire, Walter Benjamin oder Franz Hessel seien hier als Beispiel genannt. Eine Liste, die, mit wenigen Ausnahmen wie George Sand und Virginia Woolf, vollständig von Männern angeführt wird. Warum waren eigentlich so wenige Frauen unterwegs, fragt Solnit?
Feministische Psychogeografie
Die Frage stellen sich auch die Autor*innen der feministischen Anthologie „Flexen. Flâneusen* schreiben Städte“. „Das, was ich mache, ist nicht einfach nur ein nettes Herumspazieren, ein Lustwandeln, eine Selbstverständlichkeit. Ich bin noch kein Teil einer Tradition, es gibt von mir noch kein Bild mit Spazierstock und Zylinder auf den großen Boulevards, keine Literaturgeschichte. Wenn ich mich in Städten bewege, heißt das: Aufpassen.“ Das Buch enthält verschiedene literarisch-kritische Annäherungen an das Gehen durch urbane Räume und an die Unsicherheiten, die für Frauen oder queere Menschen damit verbunden sind. Es ist der Versuch, ihnen eine Stimme zu geben; die Stadt Schritt für Schritt für sich zu erobern und mit eigenen Wahrnehmungen zu überschreiben.
Dass das nicht überall auf der Welt so einfach ist wie in unserem mitteleuropäischen Kulturkreis, zeigt die enthaltene Reportage von Julia Lauter: Sie hat indische Frauen in Mumbai begleitet, die sich vorwiegend nachts zu längeren Spaziergängen treffen; einer Zeit, in der öffentliche Orte in Indien ausschließlich von Männern geprägt werden. Es ist eine Form des Protests und des Aufbegehrens gegen eine spürbare Unterdrückung im urbanen Raum, die allein auf der Tatsache beruht, dass jemand weiblichen Geschlechts ist. Und es ist, angesichts von auch in den hiesigen Medien präsenten Vergewaltigungen und Morden an indischen Frauen, noch immer mit höchster Gefahr verbunden.
Wenn ich mich in Städten bewege, heißt das: Aufpassen
„Lesen im Text der Stadt“
Nicht ausschließlich auf die Rolle von Frauen, aber ebenso auf die Bedeutung des Gehens innerhalb städtischer Räume bezogen ist die Publikation „Psychogeografie“ von Anneke Lubkowitz; sie dreht sich um „Das Bild des Gehens als Lesen im Text der Stadt“. Auch hierbei handelt es sich um eine Anthologie mit einer Mischung aus theoretischen und poetischen Texten, darunter Beispiele der literarischen Spaziergänger Will Self und David Wagner, die sich auf ihren Streifzügen den Beobachtungen und Assoziationen hingeben; oder vom Professor der „Spaziergangwissenschaften“ Lucius Burckhardt, der mit seinen Student*innen in aktionistischen Interventionen darauf aufmerksam machte, wie viel Platz Autos eigentlich im öffentlichen Raum einnehmen.
Natürlich darf auch die Expertise von Guy Debord nicht fehlen, dem Gründer der in den 1950er Jahren in Paris entstandenen „Situationistischen Internationale“. Dieser prägte den titelgebenden Begriff der Psychogeografie; hinter diesem steckt die Frage, welchen Einfluss die Architektur einer Stadt auf unser emotionales Verhalten hat, wenn wir uns auf gewohnten und ungewohnten Wegen durch sie bewegen. Debord forderte Menschen dazu auf, sich auf spielerische Weise beim „Umherschweifen“ von routinierten Alltagshandlungen zu lösen und sich den Begegnungen im Gelände zu überlassen.
Gehen, weiter gehen
Eine Praxis, die Erling Kagge sicherlich befürworten würde. Auch er ist leidenschaftlicher „Geher“; manchmal hat er dabei einen Endpunkt festgelegt, manchmal läuft er einfach darauf los. Wie Rebecca Solnit, die mutmaßte, „dass der Geist wie die Füße mit rund fünf Kilometern die Stunde arbeitet“ und dass er deshalb im wahrsten Sinne des Wortes kaum Schritt halten kann mit der Schnelligkeit des modernen Lebens, ist auch Kagge überzeugt: „Bei so vielen Dingen in unserem Leben geht es um hohes Tempo. Gehen tut man langsam. Es ist damit das Radikalste, was du tun kannst.“
In seinem Text „Gehen. Weiter gehen. Eine Anleitung“ verwebt er persönliche Erfahrungen von langen Wanderungen bis zum Nordpol und kurzen Spaziergängen durch die nähere Umgebung mit philosophischen Elementen und der einen oder anderen wissenschaftlichen Theorie. Wie viele Schriftsteller*innen, die sich auf der Metaebene mit der Bipedie beschäftigen, berichtet auch er von der zunehmenden Verschmelzung zwischen Körper und Umgebung: „Je länger ich gehe, desto weniger trenne ich zwischen Körper, Geist und Umgebung. Die äußere und die innere Welt gehen ineinander über. Dann bin ich kein Beobachter mehr, der sich die Natur ansieht, sondern mein ganzer Körper ist involviert.“
Wild und poetisch
Tomas Espedal führt diese transzendentale Selbsterfahrung noch einen Schritt weiter. Sein als Roman gekennzeichneter Text „Gehen oder die Kunst, ein wildes und poetisches Leben zu führen“ beschreibt einen Mann, der eines Tages Frau, Kind und Haus verlässt, um in die unbestimmte Weite loszulaufen – und dabei zu sich selbst zu finden. Ganz dem klassischen Bild des „lonesome travellers“ entsprechend, der sich in Kneipen bis zur Besinnungslosigkeit betrinkt, im Freien schläft und nur das Nötigste bei sich trägt, läuft auch dieser Ich-Erzähler durch die Welt.
Doch neben dem Alkohol führt auch das Gehen an sich bei ihm zu einem Rausch, der schnell süchtig macht: „Es gibt einen Punkt, ein Stadium, in dem das Gehen spürbar eine Grenze überschritten hat; ich habe keine Lust mehr, Halt zu machen, will einfach weitergehen, gehen, gehen, es spielt keine Rolle mehr, wo und warum, in welche Richtung, das Gehen ist mir in Fleisch und Blut übergegangen, es ist ein Rausch, ein Freiheitsrausch […].“ Das „runners‘ high“, das Langstreckenläufer alle Anstrengungen vergessen und nicht mehr anhalten lässt, scheint sich auch im Schritttempo einstellen zu können. Doch man muss aufpassen, mahnt der Erzähler: „möglicherweise gehst du so weit, dass es schwierig werden könnte, zu dem zurückzukehren, was normal ist, zu dem, was früher war, eine Arbeit, ein Zuhause?“
Solnit, Kagge, Espedal, sie alle nähern sich dem Gehen aus verschiedenen Richtungen; lösen es von der Vorstellung der banalen Fortbewegung ab und betrachten es von einer kulturhistorischen, philosophischen und wissenschaftlichen Warte aus. Wer sich mit ihren Texten beschäftigt, wird dabei ebenfalls gehen – selbst wenn man dabei auf dem heimischen Sofa sitzt.
Es gibt einen Punkt, in dem das Gehen spürbar eine Grenze überschritten hat; ich habe keine Lust mehr, Halt zu machen, will einfach weitergehen, gehen, gehen