Welches Potential hat das Gehen für die künstlerische Praxis in pandemischen Zeiten? Das Team des Forschungsprojekts "Walking Publics / Walking Arts" befragte mehr als 150 Künstler*innen in Großbritannien.

Die WALK! Ausstellung in der SCHIRN findet für die Walking Art genau zum richtigen Zeitpunkt statt. Zu Beginn der Covid-19-Pandemie war zumindest in Großbritannien ein verstärktes Interesse am Gehen zu beobachten. Überdies gibt es, wie vielleicht nicht anders zu erwarten, auch viele Künstler*innen, die sich aufgrund der Lockdown-Beschränkungen dem Gehen zugewandt haben. Als Teil unseres Forschungsprojekts Walking Publics / Walking Arts: walking, wellbeing and community during COVID-19 befragten wir in Großbritannien ansässige Künstler*innen, die zwischen März 2020 und Mai 2021 den Aspekt des Gehens in den Mittelpunkt ihrer künstlerischen Praxis gestellt haben. Im Rahmen des Projekts haben wir untersucht, auf welche Weise Künstler*innen während dieser Zeit das Gehen genutzt haben, ob diese Praxis neu für sie war und wie sie ihre Arbeit aufgrund der Restriktionen angepasst haben.

Mehr als 150 Künstler*innen aus Großbritannien haben unsere Fragen beantwortet und uns Informationen bereitgestellt, welche Formen von Walking Art sie entwickelt haben und warum. Auf Grundlage der Antworten haben wir um Einreichungen in unserer öffentlich zugänglichen #WalkCreate digital gallery gebeten. Mit 126 eingereichten Arbeiten von über 80 Künstler*innen haben wir eine Momentaufnahme der unterschiedlichen künstlerischen Auseinandersetzungen mit dem Thema Gehen während der Pandemie erhalten.

Spazieren als Inspiration und Methode

Ein Aspekt, der im Laufe unseres Projekts besonders deutlich wurde, ist die große Vielfalt an Bezügen auf das Gehen in den eingereichten Arbeiten. Eine enge Definition der Walking Art, die das Gehen als primäres Medium einsetzt (d.h. das Gehen selbst ist die Arbeit) haben die an unserem Projekt beteiligten Künstler*innen zunehmend in Frage gestellt, da sie das Spazieren als Inspiration, als Methode, als tägliche Praxis begreifen, die ein breites Spektrum künstlerischer Mittel eröffnet.

Screenshot "#WalkCreate Gallery" des Forschungsprojekts "Walking Publics / Walking Arts: walking, wellbeing and community during COVID-19"
Jo Delafons, Lockdown Walk Boxes, Auswahl aus insgesamt 44 Boxen, 2021, Eisendraht, Papier, Leinengarnfaden,Wachs, Mischtechnik und Fundmaterialien, 9,5 × 9,5 cm, courtesy of the artist

So haben wir in unserer #WalkCreate Gallery beispielsweise Einreichungen von Gemälden, Gedichten, Skulpturen und Filmarbeiten verzeichnet, die als Reaktion auf das Gehen entstanden sind; wir haben Audio- und Klang-Walks erhalten, die Nutzer*innen beim Gehen oder während der Isolation zuhause begleiten; oder auch Remote-Walks, die darauf zielen Menschen zusammenzubringen, obwohl sie weit voneinander entfernt sind sowie auch kreative Interventionen im öffentlichen Raum und gemeinschaftsbasierte Projekte, die einige der negativen Auswirkungen der Pandemie abmildern sollen und vieles, vieles mehr.

Dee Heddon, Skizze für "Walks to Remember During a Pandemic" von Louise Ann Wilson, 2020, Buntstift auf Papier, 14,8 × 10,5 cm, courtesy of Dee Heddon

Für viele der Teilnehmenden, die im Rahmen unseres Forschungsprojekts befragt wurden, hatte sich das Gehen zu einer täglichen Aktivität entwickelt. Diese Hinwendung zum Gehen wird durch die Arbeiten der Künstler*innen, die das Gehen erstmals in ihre Praxis einfließen ließen, ersichtlich. 17 Prozent der Künstler*innen, die unsere Fragen beantwortet haben, haben sich vor der Pandemie nie mit dem Gehen in ihrer Arbeit auseinandergesetzt und 85 Prozent der Befragten gaben an, dass sie Spaziergänge in Zukunft als kreative Ressource nutzen würden.

Den Gefühlen und Gedanken Raum geben

Einige der Künstler*innen begannen für ihr eigenes Wohlbefinden mehr zu gehen. Die Grafikerin Sarah Lightman brach zu Spaziergängen auf, um den häuslichen Beschränkungen während des Lockdowns zu entkommen. Ihr Ölgemälde „Blue Sky Walking during a Pandemic” dokumentiert eine Phase kurz nach dem Tod ihres Vaters, als sie versuchte sich mit ihren Spaziergängen den Verpflichtungen von Home Schooling, Kochen und Putzen zu entziehen. Lightman ging spazieren, um sich Raum zu schaffen, um zu denken und Gefühle zulassen zu können, aber auch um sich an der Natur zu erfreuen: „Wenn ich ging …war ich bei mir selbst, wirklich ganz allein mit mir“ (Sarah Lightman).

„Blue Sky Walking During a Pandemic“, 2020, 76 x 91 cm, Öl auf Leinwand, © Sarah Lightman

Andere wandten sich dem Gehen zu, weil sie aufgrund der Einschränkungen nicht länger in ihrem üblichen Medium arbeiten konnten. Die Theaterregisseurin Olivia Furber hat mit dem Filmemacher Ramzi Maqdisi zusammen „The Land’s Heart is Greater than its Map” entwickelt – ein alternativer, geführter Audio-Walk, der den in London lebenden Zuhörer*innen in die Straßen von Maqdisis palästinensischer Heimatstadt eintauchen ließ. Die Bewegungskünstlerin und Theatermacherin Sara El Sheekh hat als Reaktion auf ihre täglichen Spaziergänge mit ihrem dreijährigen Sohn einen ortsspezifischen Sound-Walk erstellt. Mit dem Projekt “Moving Roots” konnte „ich mich beschäftigen, während ich auf meinen Sohn aufpasste … ich begann während meiner Spaziergänge Geräusche aufzunehmen und dann an einer Performance zu arbeiten, die die Rezipienten selbst alleine erleben können“ (Sara El Sheekh).

Und schließlich gab es auch Künstler*innen, die Spaziergänge für diejenigen erlebbar machten, die sich isolieren mussten oder für die Gehen keine mögliche Option war. Einige unserer # WalkCreate Einreichungen haben sich schwerpunktmäßig mit der Idee des Indoor oder Virtual Walk beschäftigt – eine imaginäre Reise in den eigenen vier Wänden.

Laura Fishers Audioarbeit “Going In | Going Out” knüpft an Methoden der verkörperten Erinnerung und Visualisierung an. Die ansprechende meditative Klanglandschaft mit Musik von Sonia Killman, soll es den Zuhörenden ermöglichen, mit ihrem Körper in Kontakt zu treten und in Landschaften jenseits ihrer unmittelbaren häuslichen Umgebung zu ‚gehen‘. Fishers Arbeit ist von ihrer Identität als behinderte Künstlerin inspiriert, da „ich aufgrund meines Gesundheitszustandes und meiner Leistungsfähigkeit auch schon vor der Pandemie mein Zuhause über längere Perioden nicht verlassen bzw. nur in einem sehr beschränkten geografischen Bereich reisen konnte“ (Laura Fisher). Fishers Arbeit nutzt dieses verkörperte Wissen, um die Isolation und Angst, die mit der ans Haus gebundenen Existenz einhergeht, auf unmittelbare Weise zu lindern – eine „Geste der Liebe … in einer Zeit der Krise“ (Fisher).

“GOING IN | GOING OUT”, © Laura Fisher

Unsere Untersuchung hat nicht nur ergeben, dass das Gehen in den unterschiedlichsten Kunstformen an Bedeutung gewonnen hat, sondern sie hat auch das Potenzial des Gehens aber auch von Kreativität aufgezeigt, die negativen Auswirkungen der Pandemie abzumildern. Die Anpassungsfähigkeit und Resilienz der Künstler*innen während der Covid-19-Pandemie, ob es das Gehen alleine, in Gruppen, drinnen, online oder einfach als tägliche Aktivität war, hat gezeigt, wie sehr uns diese Spaziergänge dabei unterstützen können, unseren Weg aus der Pandemie zu finden.

Walking Publics / Walking Arts Team: Deirdre Heddon, Maggie O’Neill, Clare Qualmann, Morag Rose, Harry Wilson

WALK!

18. Februar – 22. Mai 2022

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