Ob „Jackie Brown“ oder „Forrest Gump“ – es gibt unzählige Filme mit legendären Laufszenen. Hier stellen wir unsere Favoriten vor.
Für die meisten Menschen ist es eines der alltäglichsten Dinge überhaupt, und so verwundert es kaum, dass auch Filme von vorne bis hinten gefüllt sind mit Aufnahmen vom Gehen. Menschen gehen auf Straßen, durch Gebäude, auf Feldern, sie rennen vor etwas weg oder laufen auf etwas zu, sie stolzieren, tänzeln, flanieren, humpeln oder schleichen. In einigen Inszenierungen ist der menschliche Gang aber noch mehr als reine Fortbewegung – er vermittelt dem Publikum etwas über die Figuren, die Handlung, Gefühlszustände, manchmal gar Ansichten über die Welt an sich. Zwölf Filmszenen, vom Klassiker des hedonistischen Slow-Mo-Walks über Rachefeldzüge und Selbstermächtigung bis zum Seelenschrei aller Fußgänger:innen dieser Welt.
Point Blank (John Boorman)
Die Handlung von „Point Blank“ (1967) lässt sich im Kern auf ein Wort herunterbrechen: Rache. Nach einem gemeinsam durchgeführten Raub haut der eine Gangster den anderen übers Ohr, verschwindet mitsamt dem erbeuteten Geld und dessen Ehefrau und setzt damit im wahrsten Sinne des Wortes den Rache-Feldzug in Gang: Walker (Lee Marvin) heißt der auf Rache getrimmte Gauner und ein passenderer Name ist wohl kaum denkbar. In einer fulminanten Schnittsequenz zu Beginn des Films bringt Regisseur Boorman die rasante Handlung durch Walkers Gang auf den Punkt: entschlossenen Blicks und mit trittfestem Schritt marschiert dieser durch eine Unterführung, das Klackern seiner Schuhe fabriziert die monotone Marschmusik, die hier den Soundtrack der Szene stellt. Immer weiter erklingen die Schritte in der folgenden Montage aus Vor- und Rückblenden von Walkers Ehefrau und Walker selbst, einer „one man army“, die niemand aufhalten kann.
Jackie Brown (Quentin Tarantino)
In der gut dreiminütigen Titelsequenz seines 1997 erschienenen Films „Jackie Brown“ vereint Quentin Tarantino alle denkbaren Gang-Arten in einer einzigen Sequenz: zu den Klängen des Soul-Hits „Across 110th Street“ wird die Flugbegleiterin Jackie Brown (Pam Grier) via Laufband ins Bild gefahren und fortan von der Kamera begleitet. Am Ende des Laufbands angekommen, geht sie gemächlich die langen Gänge des Flughafens entlang, beschleunigt schließlich ihren Schritt, bevor sie anfängt zu rennen. In Kombination mit Bobby Womacks Song, der von der harten Realität der Straße in einem afro-amerikanischen Viertel handelt, verrät der Gang von cooler Nonchalance bis zur finalen Flucht uns bereits alles über die Protagonistin, was in der filmischen Narration folgen wird.
After Hours (Martin Scorsese)
Ohne Geld und ohne genaue Ahnung, wo er da eigentlich genau ist, irrt der immer verzweifelter werdende Datenverarbeiter Paul Hackett (Griffith Dunne) durch das nächtliche New York mit nur einem Ziel: endlich nach Hause kommen. Dabei begann der Abend gut, als er nach einem abermals langweiligen Arbeitstag in einem Diner Marcy (Rosanna Arquette) kennengelernt hatte, die ihn kurzerhand in das Studio ihrer Künstlerfreundin in Lower Manhattan einlud. Auf der rasanten Taxifahrt dorthin verliert er jedoch seinen letzten 20 Dollar-Schein, und so bleibt dem Unglücksraben nach dem bizarren Besuch im Atelier für den Heimweg nur eine Möglichkeit: laufen. Doch Paul findet aus dem Stadtteil, der einem Labyrinth gleicht, nicht heraus und gerät in immer absurdere Szenarien, bis er schließlich von einem wütenden Mob verfolgt um sein Leben fürchten muss. Die Stadt erscheint dem flüchtenden Fußgänger als unbarmherziger Moloch, der keinen Unterschlupf und kein Entkommen kennt, während das pulsierende Synthesizer-Arpeggio auf der Tonspur Erinnerungen an John Carpenters Horror-Filmmusik aufleben lässt.
Martha (Rainer Werner Fassbinder)
In seinem Psychodrama „Martha“ arbeitete Rainer Werner Fassbinder 1974 die horrorhaften Tendenzen der gutbürgerlichen BRD-Ehe heraus: die Bibliothekarin Martha (Margit Carstensen) trifft in Rom vor der deutschen Botschaft zufällig auf Helmut (Karl-Heinz Böhm), den sie schon kurze Zeit später heiratet. Der charismatische Mann entpuppt sich jedoch schon auf der Hochzeitsreise als sadistischer Tyrann, der Martha zunehmend in allen nur erdenklichen Lebensbereichen schikaniert, unterdrückt und quält. Die erste Begegnung zwischen Martha und Helmut inszenierte Fassbinder mit seinem Kameramann Michael Ballhaus in einer eindrücklichen Szene, die Filmgeschichte geschrieben hat. Martha steigt aus einem Taxi, Helmut erblickt sie schon von Weitem. Sie laufen schließlich aufeinander zu und kurz bevor sie sich auf gleicher Höhe begegnen, beginnen beide sich umeinander und um sich selbst zu drehen, während die Kamera ihrerseits die Protagonisten mit einer 360°-Fahrt umkreist. Lediglich durch den Gang der Charaktere und die Kamera, ganz ohne Musik, wird hier erzählt, was in Worte nicht zu fassen ist: ein schicksalhaftes Treffen, der Tanz in den Abgrund.
Forrest Gump (Robert Zemeckis)
Natürlich darf in einer Auflistung über bekannte Lauf-Szenen nicht der Film fehlen, der den Ausruf „Run, Forrest, run!“ hervorgebracht hat: Robert Zemeckis‘ „Forrest Gump“ von 1994, in dem der titelgebende Held, auf einer Parkbank sitzend, Passanten sein gesamtes Leben erzählt. Dem Rennen sind mehrere Szenen gewidmet: zu Beginn des Films flieht der junge Forrest Gump, im Laufen stark beeinträchtigt durch seine Beinschienen, vor drei Schulrowdys. Unterlegt mit der heroischen Orchestermusik Alan Silvestris‘ verliert der junge Forrest beim Fluchtversuch die störenden Gehhilfen und entdeckt überrascht: er kann rennen, er kann richtig schnell rennen. Zemeckis‘ wiederholt die Szene fast identisch im Erwachsenenalter, wo der Protagonist wiederum vor Raufbolden flieht und sein Renn-Talent ihm daraufhin eine erfolgreiche Football-Karriere verschafft. Und dann natürlich die knapp sieben-minütige Montage, in der Forrest Gump fast drei Jahre quer durch die USA rennt. Der Lauf als Ermächtigung, als Meditation, als Selbstfindung.
A Life Aquatic (Wes Anderson)
In nahezu jedem Wes Anderson-Film taucht an mindestens einer Stelle eine Slow-Motion-Sequenz auf, in der die Protagonist*innen fast ausnahmslos beim Gehen, Laufen oder Rennen inszeniert werden. Dass Wes Anderson gerade den Moment des sich-in-Bewegung-Setzens verlangsamt und ihn hierdurch umso mehr ins Auge rückt, ist der besonderen Bedeutung geschuldet, die der Regisseur der menschlichen Bewegung beizumessen scheint: Immer folgt sie einer Katharsis der Protagonist*innen, so auch in der Schlussszene des skurill-traurigen „A Life Aquatic“ von 2004. Nachdem der Ozeanograph Steve Zissou (Bill Murray) seine persönliche Krise im Laufe des Films überwindet, verlässt er am Ende des Films eine Pressekonferenz, ihm folgend eine Entourage aus Bessergestellten, deren Zuspruch er so lange gesucht hat. Während auf der Tonspur David Bowies treibendendes „Queen Bitch“ erklingt, verlangsamt sich das Bild und zeigt den alternden Mann, gebrochen, aber mit sich im Reinen und im weiteren Verlauf geeint mit seiner Wahl-Familie. Ein Gang in ein neues Leben.
La Notte (Michelangelo Antonioni)
„La Notte“ ist der zweite Teil einer Trilogie, in der sich Antonioni intensiv mit der menschlichen Vereinzelung auseinandersetzt. Am Anfang des 1961 erschienenen Films besucht ein Ehepaar, das sich seit Jahren auseinandergelebt hat, einen todkranken Freund in einer Klinik in Mailand. Der Besuch hinterlässt einen profunden Eindruck auf die Frau (Jeanne Moreau), die im Anschluss allein durch die Straßen der Stadt spaziert. Gedankenverloren schlendert sie durch die fast menschenleere Innenstadt, in der lediglich ihre Schritte, Sirenen und Flugzeuggeräusche, aber keine Menschen zu hören sind. Die Sinneseindrücke scheinen der Protagonistin kaum erträglich, schließlich fährt sie mit dem Taxi in einen Vorort. Beim ziellosen Herumirren durch kaputte Straßen, Geröll und Felder schaut sie dort Menschen bei ihrem sinnlosen Treiben zu. Der Gang scheint die lang verdrängte emotionale Isolation der Frau hervorzukehren, die irreversibel ist: der inneren Leere ist kein Entkommen, erst recht nicht in der menschengemachten Urbanität.
Der Gang scheint die lang verdrängte emotionale Isolation der Frau hervorzukehren, die irreversibel ist
Die Liste ließe sich beliebig weiterführen, so gibt es doch unzählige Filme mit legendären Laufszenen: Erinnert sei aber exemplarisch noch an Silvester Stallones heroischen Lauf durch Philadelphia in „Rocky II“ sowie die Eröffnungssequenz in „Saturday Night Fever“, in der John Travolta durch die Straßen von Brooklyn stolziert – und dabei zwischenzeitlich in einer funky Kameraperspektive gar von unten gefilmt wird. Unvergessen auch Angie Dickinsons Gang durch das New Yorker Metropolitan Museum of Art in „Dressed to Kill“, die Inszenierung der wandernden Pilgerinnen in Kelly Reichardts Post-Western „Meek‘s Cutoff“ oder Dustin Hoffmans und Jon Voights Laufwege durch das verdreckte New York der späten 1960er Jahre in „Midnight Cowboy“ – inklusive einem wütenden „I’m walking here!“, der Seelenschrei aller Fußgänger dieser Welt, die wie Hoffman hier beinahe von einem Auto angefahren werden.