Oder auch: Was ein Atelier über die Künstler*in erzählt. Die Berliner Wohnung der Künstlerin Jeanne Mammen ist ein Paradebeispiel für die enge Verzahnung von Kunst- und Zeitgeschichte.
Picture this: Historische Altbauwohnung mit zwei tageslichtdurchfluteten Zimmern, bis zu sechs Meter hohe Decken, originaler Holzfußboden, mitten auf der noblen Flaniermeile Kurfürstendamm; in direkter Nachbarschaft befinden sich diverse Juweliere, teure Yoga-Bekleidungsmarken, ein Apple-Flagshipstore und – wie sollte es anders sein – eine Filiale der Deutschen Bank.
Doch was nach DEM lukrativen Renditeobjekt für internationale Real Estates klingt, wurde noch nicht in eine Anwaltskanzlei, eine Zahnarztpraxis oder ein reines Spekulationsobjekt umgewandelt. Das Wohnatelier der Künstlerin Jeanne Mammen (1890–1976) wurde 2018 von dem Stadtmuseum Berlin übernommen und ist seitdem dem Immobilienmarkt vorerst entzogen. Nach dem Ableben der Künstlerin wurde ihr Arbeitsraum kaum verändert. Lediglich die vielen Originale mussten aus versicherungstechnischen und vor allem konservatorischen Gründen durch Repliken ersetzt werden, aber dazu später mehr.
Das Atelier entspricht somit noch dem Zustand, wie Jeanne Mammen es hinterließ, als sie 1976 verstarb. 46 Jahre ist das her. Damals stand die Mauer noch, man bezahlte in Mark, Handys gab es nicht (von dem Apple Store nebenan ganz zu schweigen), der Döner hatte noch nicht seinen Siegeszug in Berlin angetreten, die Mieten waren bezahlbar und das Berghain noch ein Heizkraftwerk. Wenn man in der dunklen Diele also auf eine Makramee Arbeit trifft, kann man sich sicher sein, dass sie nicht nach einem DiY-Tutorial entstanden ist. Und so mutet es ziemlich absurd an, dass hinter all den wohlrestaurierten und strahlenden Fassaden ein doch eher bescheidender Ort wie dieser liegt.
Als Jeanne Mammen das Atelier am 1. April 1920 zusammen mit ihrer Schwester Mimi anmietet, gibt es keine Toilette, kein Bad und keine Küche; ein Umstand, der sich auch in den nächsten 102 Jahren nicht ändern wird. Vor 1920 hatten die Räume als Atelier des Fotografen Karl Schenker gedient. Dass nun darin auch gewohnt werden sollte, scheint den Vermieter von Jeanne und Mimi nicht dazu bemüßigt haben, für Komfort wie ein eigenes WC zu sorgen. Die ersten Jahre müssen für Jeanne und Mimi zwar eine prekäre, aber herrliche Bohème-Zeit gewesen sein, in der sie für verschiedene Auftraggeber Gebrauchsgrafiken schaffen und für politische Zeitschriften in Karikaturen die Eigenarten ihrer Zeitgenoss*innen festhalten. Doch die schöne Zeit nimmt ein jähes Ende.
Schon vor 1933 nehmen Jeanne und Mimi aus ihrem Hochsitz rassistisch und politisch motivierte Verfolgungen wahr, die auf einer der Hauptstraßen Berlins besonders drastisch ausfallen. Die Auftragslage wird immer prekärer und so zieht Jeanne mit ihrem Freund Hans Uhlmann (1900–1975) mit einem mobilen Bücher- und Kunststand über den Ku’Damm, um etwas Geld zu verdienen, bis Uhlmann bei einer Flugblattaktion gefasst und inhaftiert wird. Der Bücherroller wird zum Regal, das Atelier zum Käfig, in dem sie Zuflucht suchen kann, dessen Gitterstäbe aber immer die Gefahr mit sich bringen, von außen entdeckt zu werden.
Mimi hält dem politischen Druck nicht mehr stand und wandert 1937 mit ihrer Partnerin nach Teheran aus, damals ein Zufluchtsort für queere Personen. Die Mehrheit von Jeannes Freund*innen flüchtet ebenfalls ins Ausland. Was bewegt sie in diesen Jahren zu bleiben? Bleibt sie aus Gefühlen für ihre Heimatstadt und für Hans Uhlmann, den sie mehrfach in Haft besuchte, bis er 1935 entlassen wird? Oder nimmt Picassos aufrüttelndes Gemälde „Guernica“, das sie 1937 in Paris sieht, einen Einfluss auf ihre Gefühlswelt und damit auch Entscheidung?
Klar ist: Jeanne Mammen bleibt in ihrer Loge, sitz einerseits auf dem Präsentierteller und muss zugleich unsichtbar werden. Die Anonymität der Großstadt scheint sie in diesem Fall zu schützen. Ihre Kunst, die sich von Picassos Stilistik hat beeinflussen lassen, gilt als entartet, die gleichnamige Ausstellung findet im selben Jahr statt. Doch es ist keine Rede von Schockstarre oder Schaffenskrise: Ein wahrer kreativer Wahn ergreift sie. Das Atelier ist nun vollgestopft mit Gemälden, Zeichnungen, Skulpturen und verbotenen Büchern.
Als der Krieg 1939 ausbricht, wird Jeanne als Brandwachtmeisterin für ihr Haus eingeteilt und muss unter der ständigen Gefahr, dass jemand im Fall eines Bombeneinschlags ihr Atelier betreten und ihre Kunstwerke sehen wird, den Dachboden des Hauses kontrollieren. Finanzieren kann sie sich nicht wie früher durch Gebrauchskunst, ohne mit den Nazis zu paktieren (ihre auftraggebenden Verlage sind enteignet worden), also arbeitet sie kunsthandwerklich und bemalt Puppenköpfe. Freund*innen versuchen ihre Bilder im Ausland zu verkaufen, aber ihre Mittel bleiben dürftig. Lebt so jemand von Kunst allein? Man möchte es fast glauben.
Um so wichtiger ist, diese Werke genau zu betrachten und sie zu würdigen, da sie aus reinster Überzeugung und in tiefster finanzieller Not geschaffen wurden. Wir wissen, dass männliche Künstler im Ersten Weltkrieg die Geschehnisse an der Front in Kunst transformierten. Mit Sicherheit darf man die Fülle an Werken einer Künstlerin an der Heimatfront einem ähnlichen Bewältigungsprozess zuordnen.
Als der Krieg und die permanente Angst vor Entdeckung endlich vorbei sind, etabliert Mammen in ihrem Atelier eine Art Salon. Nach den Jahren der Isolation in ihrem Käfig sucht sie die Gesellschaft. Als Grande Dame empfängt sie wesentlich jüngere Künstler*innen, Theaterleute, mit denen sie das politische Kabarett „Die Badewanne“ gründet, Literat*innen und weitere.
Immer mehr Kuriositäten werden angeschafft; die Online-Sammlung des Stadtmuseums Berlin gibt einen imposanten Eindruck dieser Fülle. Unter den knapp 840 gelisteten Objekten befinden sich zum Beispiel ein Äffchen als Marionette, zwei barocke Holzengel, magische Hühnergott-Steine, Heiligenfiguren, Aschenbecher, Würfelbecher und eine Art gläserne Apfelsinenatrappe in einem Orangennetz. In den zwei vollgestopften Räumen wird nun jahrelang gegen die Schatten der Vergangenheit auf zwei provisorischen Herdplatten angebrutzelt, angetrunken und eine Zigarette nach der anderen angesteckt. Das Atelier wird mit der Lebensfreude der nächsten Berliner Bohème-Generation erfüllt.
Aufgrund des Altersunterschieds können ihre Freund*innen das Atelier nach Jeannes Tod noch einige Jahre als Treffpunkt in Form der Jeanne-Mammen-Gesellschaft bewahren, bis es aus alterstechnischen Gründen vom Berliner Stadtmuseum übernommen wird. Was die Gelage der Nachkriegsjahre für Auswirkungen auf die Gemälde mit ihren empfindlichen Oberflächen und auf das säurehaltige Papier der Grafiken hatten, beschäftigt mittlerweile die Restaurator*innen.
Noch heute meint man etwas Würziges zu riechen, wenn man die zwei Zimmer durch den winzigen Flur betritt. Schade, dass man diese Sinneswahrnehmung nicht in dem 3-D Rundgang durch die Räume, die das Stadtmuseum online gestellt hat, vermitteln kann. Denn der (blaue) Dunst der Geschichte macht den eigentlichen Bann dieser von Mammen selbsternannten „Zauberbude“ aus. Besonders, wenn man nach seinem Besuch in einen der parfümierten und cleanen Concept Stores nebenan geht.