Identifizierungs-, Klassifizierungs- und Ordnungssysteme sucht man in Gauri Gills „Notes from the Desert“ vergebens. Trotzdem bezeichnet sie die Werkserie als ein offenes Archiv. Was macht ein Archiv also aus und Gauri Gills Ansatz so besonders?

„Archive sind das Produkt eines Prozesses, der eine gewisse Anzahl von Dokumenten zu Objekten erklärt, die als bewahrenswert erachtet, an einem öffentlichen Ort vorgehalten und nach festgelegten Verfahren und Vorschriften zugänglich gemacht werden“ – so lesen wir in Achille Mbembes Text „The Power of the Archive and Its Limits" aus dem Jahr 2002.

Oft tragen institutionelle Archive eine noch unaufgearbeitete koloniale Geschichte in sich, die zeitgenössische Künstler*innen dazu veranlasst, die Macht, die diesen Archiven eingeschrieben ist, kritisch zu thematisieren. Betrieben wird die Archivkritik bereits seit dem Aufkommen der postkolonialen Theorie, und doch scheint das „Archiv-Fieber“ kein Ende zu finden: Nach wie vor setzen sich viele zeitgenössische Künstler*innen mit der Vorstellung des Archivs auseinander, widmen sich der Archivforschung oder erstellen eigene künstlerische Archive. Sie verfolgen jeweils unterschiedliche Ansätze und gelangen zu verschiedenen Ergebnissen, bekunden dabei aber stets ein Interesse an der Mikro- oder Makrogeschichte und ihrer Vermittlung. Doch führe dieser Trend Archivtheoretiker*innen zufolge letztlich zu einer Überbeanspruchung des Begriffs „Archiv“, der somit seine Bedeutung eingebüßt habe. 

Archive sind das Produkt eines Prozesses, der eine gewisse Anzahl von Dokumenten zu Objekten erklärt, die als bewahrenswert erachtet, an einem öffentlichen Ort vorgehalten und nach festgelegten Verfahren und Vorschriften zugänglich gemacht werden.

Achille Mbembe [eigene Übersetzung, Original auf Englisch erschienen]

Anstatt die klassische Definition des Archivbegriffs nun zu verteidigen, möchte ich vielmehr darauf verweisen, dass es wichtig ist zu untersuchen, wie und in welchen Kontexten er von Künstler*innen verwendet wird und welche potenziellen Formen der Kritik sich hieraus ableiten lassen.

Daher nehme ich die aktuelle Ausstellung Gauri Gill. Acts of Resistance and Repair in der SCHIRN zum Ausgangspunkt, um folgende Fragen zu stellen: Was bedeutet es, wenn eine Künstlerin wie Gauri Gill, der geteilte Autor*innenschaft und Multiperspektivität wichtig sind, ihr seit 1999 fortlaufend betriebenes, umfassendes fotografisches Projekt „Notes from the Desert“ als Archiv bezeichnet, ohne jedoch ein System der Klassifizierung vorgeben zu wollen und einer breiteren Öffentlichkeit uneingeschränkten Zugang zu ihm zu gewähren? Was macht das Archiv – als Konzept, Institution oder Form – so attraktiv für Künstler*innen wie Gill, denen offenkundig gar nicht daran gelegen ist, das zu begründen, was typischerweise unter einem Archiv verstanden wird –  einschließlich seiner architektonischen Struktur, die, der Vorstellung einer Verwahrstätte folgend, Bestände anhand eines Regelwerks und Ordnungssystems bewahrt, das ihre Identifizierung, Klassifizierung und Deutung ermöglicht?

Ausstellungsansicht: Gauri Gill. Acts of Resistance and Repair, Detail: Notes from the Desert, Schirn Kunsthalle Frankfurt 2022, Foto: Norbert Miguletz
Ein Archiv ohne Klassifizierungssystem

Gauri Gill übernimmt hier nicht die Rolle einer Fotografin, die einen vermeintlich objektiven dokumentarischen Überblick über eine bestimmte Gruppe von Menschen und ihre jeweilige Umgebung zu bieten sucht und sich hierfür eines Klassifizierungssystems bedient, wie es etwa der deutsche Fotograf August Sander tat, der in „Menschen des 20. Jahrhunderts“ verschiedene Vertreter*innen sozioökonomischer „Typen“ der Weimarer Republik porträtierte, oder aber britische Kolonialfotografen, denen es darum ging, eine Übersicht über „Rasse-“ und „Stammestypen“ zu erstellen, die sie in Bänden wie „The People of India“ vorlegten. Ganz bewusst nennt Gauri Gill ihr Werk nicht „Menschen der Wüste“, sondern „Notizen aus der Wüste“, was von Vornherein den Ton angibt und auf eine essayistische statt enzyklopädische Form verweist. Laut Duden handelt es sich bei einer „Notiz" um eine kurze, stichwortartige schriftliche Aufzeichnung, die als Gedächtnisstütze dienen soll. 

Eine Tafel aus dem Buch "The People of India" von John Forbes Watson and John William Kaye, die Mitglieder der Gemeinschaft von Coorg ,1875, Image via commons.wikimedia.org

Gauri Gills Werk „Notes from the Desert“ umfasst Tausende während ihres Aufenthalts im westlichen Rajasthan angefertigte Schwarz-Weiß-Fotografien. Darin hielt sie intime Momente im Leben einzelner Menschen wie etwa Geburt, Krankheit, Tod, Freundschaft, Verbindung und Konflikt fest. Wir sehen Augenblicke der Berührung: auf einen Baum gekletterte Kinder in herzlicher Umarmung, eine Frau, die auf dem Felsboden kniend eine schwarze Ziege umarmt, einen Mann, der die Hand des im Sterben liegenden ältesten Mitglieds der Gemeinschaft hält und sein Gesicht berührt. Was wir hier sehen, ist keine Gesamtschau von „Typen“. Es sind Protagonist*innen, die selbst die Entscheidung treffen, wie sie festgehalten werden möchten: beim Schneiden von Grimassen, beim freudigen Luftsprung oder das Gesicht von einem dupatta (Schal) oder einer Maske bedeckt.

Gauri Gill: New Homes after the flood Lukransar, aus der Werkserie: Notes from the Desert, 1999 fortlaufend (c) Gauri Gill

Wenn Gill diese Arbeiten nun als Archiv bezeichnet, so ließe sich das als Teil einer Tendenz begreifen, die Kritik übt an dem, was lange Zeit unter Archiv verstanden wurde. Mit ihren fotografischen „Notizen“, so könnte man sagen, nimmt Gill die Rolle einer dezidiert postkolonialen Anthropologin ein, die sich ihrer Rolle als Fotografin aus der Hauptstadt bewusst ist, wenn sie sich auf ein ländliches Forschungsfeld begibt, angetrieben von dem Interesse, zuzuhören, zu lernen und dabei langfristige Beziehungen, ja sogar Freundschaften zu begründen. Das offene künstlerische Werk, das aus diesem Prozess hervorgeht, wird nicht allein geprägt von diesen Begegnungen, es ist deren Ergebnis. Anders gesagt: Das Archiv, das Gill schafft, ist das ihrer Begegnungen.

Feministische Objektivität

Gills Entscheidung, „Notes from the Desert“ als Archiv zu bezeichnen, kann daher auch im Lichte dessen gesehen werden, was von mehreren Wissenschaftler*innen als „sentient“ oder „affective archives“ beschrieben wird: Archive, die von persönlichen Begegnungen, Beziehungen und Affekten erzählen und dabei eine unverkennbar partiale Perspektive einnehmen. Letztere ist der feministischen Wissenschaftlerin Donna Haraway zufolge sogar die einzige Möglichkeit, zu einer objektiven Sichtweise zu gelangen. Die feministische Objektivität beruht auf einer Reflexion der eigenen Verortung sowie des „situierten Wissens“ und hebt sich damit ab vom entkörperten „Auge des Meistersubjekts“, wie es sich zum Beispiel hinter der Kameralinse kolonialer ethnografischer Archive verbirgt.

Gauri Gill: Jannat Barmer, aus der Werkserie: Notes from the Desert, 1999 fortlaufend (c) Gauri Gill

Eine neugierige Praxis basiert auf dem, was Haraway „Thinking-with“ nennt: Prozesse des Zuhörens und des Sich-Einstellens auf andere. Dieses Mitdenken äußert sich in Gills gesamtem Werk in ebenso subtilen wie starken visuellen Formen: Für „Fields of Sight“ etwa arbeitete sie mit dem Warli-Künstler Rajesh Chaitya Vangad zusammen, der Fotos bemalte, die sie zuvor von ihm aufgenommen hatte, als er sie durch die Umgebung seines Dorfes führte; für „Acts of Appearance“ kooperierte sie mit den Pappmascheekünstlern Subhas und Bhagvan Dharma Kadu, die farbenfrohe Masken für die Protagonist*innen von Gills Werkserie schufen. In beiden Fällen bleiben die Gesichter der Personen durch eine Maske oder aber ihre Körperhaltung dem Blick verborgen. Wie auch in „Notes from the Desert“ entstanden die Aufnahmen nicht aus der Sichtweise eines einzelnen Autors heraus und gemäß „festgelegter Regeln und Vorschriften“, sie sind vielmehr das Ergebnis von Gesprächen und Kollaborationen, von Zuhören und gegenseitigem Kennenlernen. Gills archivarischer Prozess ist also stets ein kollektiver – und in der Ausstellung sehen wir das Zeugnis ihrer Begegnungen.

Ausstellungsansicht: Gauri Gill. Acts of Resistance and Repair, Detail: Acts of Appearance, Schirn Kunsthalle Frankfurt 2022, Foto: Norbert Miguletz

Gauri Gill. Acts of Resistance and Repair

13. Okto­ber 2022 bis 8. Januar 2023

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