Ein Titel, zwei Werke: Mit der Fotoserie „The Americans“ verweist Gauri Gill auf das gleichnamige Fotoband des Schweizer Fotografen Robert Frank aus den 1950er-Jahren. Ein Vergleich zeigt, dass der distanzierte Blick Robert Franks durch Gauri Gill einem Einblick ins Private gewichen ist.
An der Fotoserie „The Americans“ arbeitete Gauri Gill fast acht Jahre lang. Bereits während ihres Studiums in den 1990er-Jahren an der Parsons School for Design in New York entstanden erste Aufnahmen, die in den darauffolgenden Jahren im Rahmen mehrerer Reisen in verschiedene US-amerikanische Bundesstaaten wie New Jersey, Tennessee oder California erweitert wurden. Die langen Zeitspannen, in denen Gills Werkzyklen häufig entstehen, geben einen Hinweis auf ihre Arbeitsweise als Fotografin und Künstlerin: Im stetigen Austausch baut sie persönliche, zum Teil enge freundschaftliche Beziehungen zu den fotografierten Personen auf, begleitet sie oft über mehrere Jahre hinweg und hält somit auch den Verlauf der Zeit fest, wie er sich in den Gesichtern, den Beziehungen, der vertrauten Umgebung oder der politischen Landschaft abzeichnet – stets mit einem dokumentarischen Abstand, durch den die unterschiedlichen Serien an Authentizität gewinnen.
Die südasiatische Diaspora in den USA
Diese produktive Synergie von zwischenmenschlichen Beziehungen und dokumentarischem Blick durch die Kamera liegt auch der Serie „The Americans“ zugrunde. Gill fotografierte die in den USA lebende südasiatische Diaspora, besuchte dafür Verwandte und Freund*innen in ihrem Zuhause oder am Arbeitsplatz, in den New Yorker Vororten und im Stadtzentrum, begleitete sie bei Freizeitaktivitäten und hielt intime Momente des Familien- oder Privatlebens fest. Entstanden sind farbige Aufnahmen aus dem Alltag der südasiatischen Gemeinschaft, die Gill in Diptychen zusammenfügt oder einzeln präsentiert. Sie zeigen Menschen, gekleidet in Saris oder mit Dastar, beim Essen oder Telefonieren, auf Hochzeiten, im Club oder bei heiligen, hinduistischen Ritualen. In „The Americans“ trifft der persönliche Lebensbereich der südasiatischen Diaspora auf eine allgemeine Vorstellung der US-amerikanischen Bevölkerung und Kultur. In dieser Gegenüberstellung liegt es nahe, „The Americans“ in einem ersten Schritt als Kommentar zur US-amerikanischen Integrationspolitik zu lesen – Debatten über Zugehörigkeit, Identität und postkoloniale Narrative sind zweifelsfrei Bestandteil der Deutung von Gills Œuvre.
Der Vergleich mit der gleichnamigen Fotoserie des Schweizer Fotografen Robert Frank, die 1958 erstmals als Fotobuch veröffentlicht wurde und auf die Gill mit dem Titel ihrer Serie verweist, verdeutlicht jedoch, dass ihre Arbeit über eine soziographische Dokumentation hinausgeht. Frank fertigte seine Serie innerhalb von zwei Jahren im Rahmen eines Reisestipendiums des Guggenheim Museums an. Seine Schwarz-Weiß-Fotografien zeigen Fließbandarbeiter und Hollywoodstars, verlassene Diners, gläubige Juden zu Yom Kippur oder eine schwarze Familie im vorbeifahrenden Auto. In der US-amerikanischen Gesellschaft der Nachkriegszeit löste „The Americans“ heftige Kritik aus, einerseits aufgrund der Darstellung von Gewalt, Rassentrennung, Armut und Konsumkultur sowie andererseits wegen der zur damaligen Zeit als amateurhaft empfundenen Fototechnik.
Frei von Inszenierung
Gemein ist beiden Serien der dokumentarische Stil der Fotografien, bei deren Betrachtung der Eindruck entsteht, dass die Momente und Begebenheiten frei von Inszenierung, scheinbar zufällig, aufgenommen wurden. Diese Darstellungsweise geht bei Frank sogar so weit, dass einige der Abgebildeten vermutlich ohne ihr Wissen und ihre Zustimmung fotografiert wurden – beispielsweise das junge Paar, das irritiert, wenn nicht gar erbost zurückblickt, als Frank hinter ihnen stehend den Auslöser drückt. Zudem greift Gill einige der Motive von Franks Serie von 1958 auf oder stellt formalästhetische Parallelen her, beispielsweise bei Ansammlungen junger Menschen in Bars und Clubs, oder mithilfe wiederkehrender Motive wie Autos, der US-amerikanischen Flagge oder flimmernder Fernsehbildschirme und Werbetafeln.
Zu den eindrücklichsten Momenten der Serie von Gill zählt die Beerdigung von Prem Kumar Walekar, der 2002 an einer Tankstelle von einem Heckenschützen der Beltway Sniper Attacks erschossen wurde. Gill stellt der Aufnahme des offenen Sarges ein Portrait des Sohnes des Verstorbenen gegenüber, der die Hände zu Fäusten geballt mit starrem Blick in die Kamera schaut. Auch in Franks Serie findet sich eine ähnliche Aufnahme einer Beerdigung mit offenem Sarg sowie der Trauergemeinde, die sich im Freien versammelt hat. Anhand dieses Motivs zeigt sich aber auch die unterschiedliche Haltung, die Gill und Frank gegenüber ihrem Werk einnehmen. Beide dokumentieren mit ihrer Kamera diesen höchst emotionalen Moment von Abschied und Trauer und bilden Emotionen ab, die über Generationen, Bevölkerungsgruppen und Religionsgemeinschaften hinweg universell empathisch begreifbar sind.
Das Zwischenmenschliche im Blick
Bei Gill wird jedoch durch die Darstellung der zwei Szenen als Diptychon sowie den Blick des jungen Mannes in die Kamera eine zwischenmenschliche Ebene zwischen Fotografin und Sujet eröffnet, die mutmaßlich auf die persönliche Beziehung von Gill zu den Abgebildeten zurückzuführen ist, sich jedoch auch auf die Betrachter*innen überträgt. Während Frank als Beobachter einen Abstand zu den Abgebildeten wahrt und aus dieser Position heraus den Pluralismus und die Widersprüchlichkeiten der US-amerikanischen Gesellschaft so dokumentiert, wie sie sich ihm als außenstehendem Betrachter 1958 präsentiert, blickt Gill in den 2000er-Jahren in die privaten Bereiche der südasiatischen Gemeinschaft, zeigt sie in ihren Häusern, bei Familienfesten und religiösen Zeremonien.
Es sind diese Einblicke in die Privatsphäre der abgebildeten Personen, in denen sich Gills Werk besonders deutlich von der Serie Franks unterscheidet. In Kombination mit dem dokumentarischen Stil der Fotografin entsteht in Gills „The Americans“ ein universelles Bild von Gemeinschaft, Tradition, Heimat und gelebter Erfahrung, das über das kulturell Spezifische hinaus und unabhängig von der diasporischen Identität der abgebildeten Gemeinschaft empathisch begriffen und gedeutet werden kann.
Gauri Gill. Acts of Resistance and Repair
13. Oktober 2022 bis 8. Januar 2023