Das deutsche Kunstpublikum begegnete Marc Chagall mal mit unbändiger Begeisterung, mal mit regressiver Kritik und Diffamierung. Wie lässt sich sein langfristig ruhmreicher Einzug ins deutsche Kunstgedächtnis erklären?
„Ein kosmisches Kind lebt unter uns. Marc Chagall. Der Märchenprinz mit absoluter Farbe“, schreibt der deutsche Kunstkritiker Theodor Däubler 1916 und reiht sich mit seiner poetischen Beschreibung in die Fülle an Bewunderungsbekundungen der deutschen Kunstszene der Zeit ein. Doch nicht selten mischten sich Anfang des 20. Jahrhunderts unter bewundernde und wertschätzende Stimmen wie Däublers auch Äußerungen der Kritik – ein widersprüchliches Verhältnis, das paradigmatisch für die Rezeption Chagalls im deutschen Raum steht. Wie lässt sich sein längerfristig ruhmreicher Einzug ins deutsche Kunstgedächtnis erklären?
Den Ausgangspunkt für Chagalls Rezeption in Deutschland stellte der erste Deutsche Herbstsalon von 1913 in der Berliner Galerie „Der Sturm“ dar. Erstmalig wurden in der Avantgarde-Galerie Marc Chagalls Werke ausgestellt, erstmals trafen sie auf ein deutsches Kunstpublikum. Neben Werken des Futurismus, Kubismus, Expressionismus und anderen Avantgarden stellte der jüdische Verleger und Galerist Herwarth Walden drei Arbeiten Chagalls aus. Seitens der Presse wurden die ausgestellten Werke jedoch keineswegs wertgeschätzt, viel mehr wurden die vielfältigen neuen Ausdrucksformen der sich formierenden Künstler*innen der Moderne scharf kritisiert. Demgegenüber standen Kunstkritiker*innen wie Theodor Däubler, die sich mit großem Interesse an der neuen Formensprache, die junge Künstler*innen wie Chagall in ihren Arbeiten visualisierten, für ihre Verbreitung einsetzten. 200 Arbeiten Marc Chagalls gelangten zwischen 1913 und 1933 in die Sammlungen deutscher Kunstinteressierter und Museen. Trotz der Kauffreudigkeit des deutschen Publikums fehlte jedoch eine beidseitige Vertiefung des Verhältnisses zwischen Künstler und Käufer*innen. Die Autorin Meret Meyer hebt in diesem Zusammenhang hervor, dass Marc Chagall weder größere, persönliche Teilhabe an der Etablierung seiner eigenen Kunstpersönlichkeit in der deutschen Kunstszene der Zeit hatte, noch längere Aufenthalte in Deutschland plante. Was war also ausschlaggebend für die Verbreitung seiner Kunst?
Chagall in Berlin: zwischen unbändiger Begeisterung und regressiver Kritik
Die Spuren führen immer wieder nach Berlin. 1914 reist Marc Chagall für seine erste Einzelausstellung in der Galerie Waldens erstmalig in die deutsche Großstadt. 34 Ölgemälde, die größtenteils Arbeiten seiner produktiven und stilistisch prägenden Pariser Zeit waren sowie mehr als 100 Aquarelle und Zeichnungen wurden auf kleinem Raum präsentiert. Die Neuheit des Ausdrucks - insbesondere der Farb- und Themenwahl - blieb in der deutschen Kunstpresse nicht unerwähnt, die die Ausstellung lobend thematisierte. Nach seinem Berlin-Besuch reiste der Künstler zurück in seine Heimat Witebsk, wo er seine Freundin Bella Rosenfeld heiratete. Das Bestreben des jungen Pärchens, zurück nach Paris zu reisen, wurde jedoch durch den Ausbruch des Ersten Weltkriegs zunichte gemacht, sodass der Künstler erst 1922 über einen Zwischenstopp in Berlin wieder nach Frankreich gelangte.
Insbesondere dieser Deutschlandbesuch – ein neunmonatiger Aufenthalt in Berlin mit seiner Frau Bella und der gemeinsamen Tochter – war geprägt von Unbehagen: Marc Chagall hatte 1914 dem Galeristen Walden eine Vielzahl an Gemälden und Zeichnungen für eine Ausstellung überlassen, die dieser während des Ersten Weltkriegs und über dessen Ende hinaus an deutsche Sammler*innen verkaufte. Diese nahmen bereitwillig Chagalls Werke in ihre Sammlungen auf. Durch die Inflation erhielt der Künstler allerdings nur wenig Geld für diese essentiellen Werke seiner frühen Schaffensphase, weshalb Chagall am 12. Juni 1923 juristische Schritte gegen Walden einleitete, die erst 1926 abschließend geklärt wurden. So erhielt der Künstler einige der verkauften Werke aus der Sammlung von Nell Walden, der Frau des Galeristen, zurück. Finanziell und materiell bedeutete der Verkauf seiner frühen Arbeiten durch den Galeristen jedoch weiterhin einen immensen Schaden für Chagall. Zugleich wurde dem Künstler unter anderem von Verlagen in Aussicht gestellt, seine Werke auszustellen oder in Zeitschriften und Katalogen zu präsentieren, wogegen sich Chagall jedoch aussprach. Meret Meyer sieht hierin eine Abwehrhaltung gegen Kategorisierungen wie „expressionistischer“ oder „jüdischer Künstler“, die von der Kunstszene ausgingen.
Sein letzter Besuch in Berlin war eine Reise von 1930, wo er an der Vernissage einer Ausstellung seiner Gouachen zu Jean de la Fontaines Fabeln in der Galerie Flechtheim teilnahm. Nach einem Treffen mit dem deutschen Impressionisten Max Liebermann in dessen Residenz im Zentrum von Berlin fuhr Chagall zurück nach Paris und kehrte nicht mehr nach Deutschland zurück. Der Holocaust und seine Folgen, die sich auch auf den Künstler und seine Familie auswirkten, bildeten in den folgenden Jahren ein präsentes Thema in seiner künstlerischen Arbeit und beeinflussten sein Verhältnis zu Deutschland. Zu erwähnen ist außerdem, dass die deutsche Kunstszene der 1910er und 1920er-Jahre seine Kunst zwar schätzte, doch fehlte im breiten deutschen Publikum ein Verständnis für die neuen, vielfältigen Formen der modernen Kunst.
Die Kunsthistorikerin Annette Weber betont, dass es sich hierbei um ein Verhaften im traditionellen, rückschrittlichen Kunstgeschmack der deutschen Kaiserzeit handelte – der die spätere Enteignung und Verfemung „entarteter“ Kunst, zu der auch Chagalls Arbeiten gezählt wurden, von Seiten der Nationalsozialist*innen erleichterte. Schon am Anfang der 1920er-Jahre lassen sich in vereinzelten Pressestimmen antisemitische Angriffe auf den Künstler und seiner Kunst vernehmen. So wundert es nicht, dass Marc Chagall als bekannter jüdischer Künstler in der gleichnamigen nationalsozialistischen Kunstschau „Entartete Kunst“ ein besonderer Platz eingeräumt wurde und seine Arbeiten unter dem Verdacht der bolschewistischen Propaganda geächtet wurden. Nach Weber handele es sich hierbei um eine kalkulierte Inbesitznahme Chagalls „als Inbegriff des ‚entarteten‘ Künstlers“.
Von „entarteter Kunst“ zum Maler der deutsch-jüdischen Annäherung
Nach seiner Flucht in die USA kam Chagall Ende der 1940er-Jahre zurück nach Frankreich, von wo die Bekanntheit des Künstlers und seiner Werke mit maßgeblicher Unterstützung seiner Tochter Ida stetig zunahm. Große Wirkungskraft erlangte unter anderem eine umfassende Retrospektive seines Œuvres, die 1947 in Paris stattfand. Seine Tochter stellte auch den Ausgangspunkt für großformatige Ausstellungen in Deutschland dar, etwa 1955 in Hannover und 1959 in Hamburg und München.
Doch welche weiteren Entwicklungen ermöglichten Chagalls beispielhaften Aufstieg in der deutschen Kunstrezeption, können seine Erfolge beim Publikum der Nachkriegszeit doch keineswegs als selbstverständlich angenommen werden? Die während der Weimarer Zeit formierte, begeisterte Sammler*innenbasis war längst durch den Tod oder das Exil vieler Kunstinteressierter aufgelöst. Annette Weber stellt zudem heraus, dass wenig Interesse seitens des Publikums bestand, sich mit der jüngsten Geschichte auseinanderzusetzen. Das Präsentieren von ehemals verfolgten und unterdrückten Künstler*innen wurde anfänglich maßgeblich von der Politik vorangetrieben: Verschiedene Ausstellungen, der Verleih von Werken und andere Strategien wurden genutzt, um Avantgarde-Künstler*innen eine Plattform zu bieten. Chagalls figürliche Malerei bot für viele Ausstellungsbesucher*innen einen einfacheren Zugang zur modernen Kunst als die Werke der abstrakten Meister*innen.
Schon die ersten Retrospektiven zu Chagalls Œuvre zogen Massen an und weckten kurz darauf das Interesse deutscher Museen und Sammler*innen, die die Werke des Künstlers wieder in ihre Sammlungen aufnahmen. Insbesondere Projekte wie die Gestaltung des großformatigen Gemäldes „Commedia dell’arte“ für die Oper in Frankfurt 1958/59 festigten Marc Chagalls Beliebtheit in Deutschland. Neben politischen Beweggründen einen jüdischen Künstler zu fördern, schwappte die Begeisterung für Chagalls Motive auch in die Populär-Kultur über. Im Gegensatz zur Weimarer Zeit wurde der Künstler nicht mehr nur in kunstelitären Kreisen rezipiert. Insbesondere sein Spätwerk gilt als massentauglich, hier mischen sich figurative Motive mit heller, freundlicher Farbigkeit.
Verschiedene Motive wie Marc Chagalls biblische Illustrationen stellten zudem ein allzeit beliebtes Bildthema des Publikums dar, das sich – wie auch die Politik – Chagalls Arbeiten als Projektionsfläche der deutsch-jüdischen Annäherung aneignete. Verschiedene Kunstkritiker*innen wie Meret Meyer und Annette Weber heben die außerordentlichen Lobhuldigungen seines Werks, insbesondere der „biblische[n] Bilder, die metaphorisch und vor allem ahistorisch interpretiert wurden“ hervor und bemerken ihre Funktion als eine Art Schablone, die gleichermaßen die „französisch-deutsche [..] Verständigung und christlich-jüdische Versöhnung visualisiert“.
„Nennt mich nicht einen Phantasten. Im Gegenteil, ich bin Realist, ich liebe die Erde“ schreibt Chagall 1922 in seinem Buch „Mein Leben“ und formuliert damit einen Anspruch an sein Werk, dem in seiner Rezeptionsgeschichte nicht immer nachgekommen wurde. Erweiternde Perspektiven auf das Œuvre des Künstlers eröffnen unter anderem weniger beachtete Arbeiten der 1930er und 1940er-Jahre, die ein Konvolut an kritischen und reflektierenden Blicken Marc Chagalls auf das Zeitgeschehen zeigen. Die helle Farbigkeit und der vermeintlich fröhliche Ausdruck werden in diesen Bildern häufig von einer dunkleren Farbpalette und vielfältigen Formen abgelöst. Diese inhaltliche – und ebenso künstlerische – Abweichung von dem, was als „das“ Werk Marc Chagalls bekannt ist, bereichert unsere heutige Sicht auf diesen großen Künstler der Moderne.