In Marc Chagalls (1887–1985) Werk scheinen der Fantasie keine Grenzen gesetzt. Er gilt als einer der eigenwilligsten Künstler der Moderne. Die Schirn Kunsthalle Frankfurt widmet dem Maler nach 15 Jahren erstmals wieder eine groß angelegte Ausstellung in Deutschland.
„Chagall. Welt in Aufruhr“ beleuchtet vom 4. November 2022 bis zum 19. Februar 2023 eine bislang wenig bekannte Seite seines Schaffens: Chagalls Werke der 1930er- und 1940er-Jahre, in denen sich seine farbenfrohe Palette zunehmend verdunkelt.
Vertreibung, Verfolgung und Emigration
Als jüdischer Maler war Chagall immer wieder existenziellen Bedrohungen ausgesetzt, die sich prägend auf sein Leben und sein Werk auswirkten. In den frühen 1930er-Jahren thematisierte er in seiner Kunst den immer aggressiver werdenden Antisemitismus und emigrierte 1941 aufgrund der Verfolgung durch das nationalsozialistische Regime schließlich in die USA. Sein künstlerisches Schaffen in diesen Jahren berührt zentrale Themen wie Identität, Heimat und Exil. Mit rund 60 eindringlichen Gemälden, Papierarbeiten und Kostümen der 1930er- und 1940er Jahre zeichnet die Ausstellung die Suche des Künstlers nach einer Bildsprache im Angesicht von Vertreibung, Verfolgung und Emigration nach. Sie präsentiert wichtige Werke, in denen sich Chagall vermehrt mit der jüdischen Lebenswelt beschäftigte, zahlreiche Selbstbildnisse, seine Hinwendung zu allegorischen und biblischen Themen, die bedeutenden Gestaltungen der „Ballette Aleko" (1942) und „Der Feuervogel" (1945) im US-amerikanischen Exil, die wiederkehrende Auseinandersetzung mit seiner Heimatstadt Witebsk und Hauptwerke wie „Der Engelsturz" (1923/1933/1947).
Eine Auseinandersetzung mit der jüdischen Identität
Die Ausstellung in der Schirn fokussiert Werke von Marc Chagall, die in den 1930er- und 1940er Jahren entstanden sind, in einem thematisch gegliederten Rundgang mit sieben Sektionen. Anfang der 1930er-Jahre begann im Schaffen von Marc Chagall ein verstärktes Interesse an jüdischen Themen und eine intensive Auseinandersetzung mit der eigenen jüdischen Identität. Auftakt des Ausstellungsrundgangs bildet das bedeutende Gemälde „Einsamkeit", entstanden 1933, dem Jahr der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland. Es zeigt einen Juden in der Pose der Melancholia vor einer brennenden Stadt. Schützend umfasst er eine Thorarolle, während ihm eine Geige spielende Kuh Trost spendet. In dieser Zeit realisierte Chagall im Auftrag des Kunsthändlers Ambroise Vollard auch Illustrationen des Alten Testaments, die ebenfalls in der Schirn zu sehen sind. Vor diesem Hintergrund bereiste er 1931 gemeinsam mit seiner Familie das britische Mandatsgebiet Palästina. Vor Ort entstanden Zeichnungen und Gemälde in einer zeitlosen, für Chagall ungewöhnlich dokumentarischen Ausführung, die sich auf die Darstellung heiliger, jüdischer Stätten wie die Klagemauer sowie Innenräume von Synagogen konzentrieren und das zeitgenössische Leben in Palästina aussparen. Zu sehen sind in der Ausstellung auch Zeichnungen der Synagoge in Wilna (1935), die während einer Reise ins damals polnische Wilna, heute Vilnius, entstanden.
Ständig in Bewegung, ständig auf der Flucht
Chagall wechselte immer wieder seinen Lebensmittelpunkt. Im Jahr 1922 verließ er das postrevolutionäre Russland und lebte mit seiner Frau Bella Chagall und der Tochter Ida, nach einem Zwischenaufenthalt in Berlin, ab 1923 in der französischen Hauptstadt Paris. 1941 floh er gemeinsam mit seiner Familie vor der Verfolgung durch die Nationalsozialisten in die USA und kehrte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs 1948 aus der Emigration nach Frankreich zurück. Anders als in Frankreich, wo einige von Chagalls Arbeiten wie Bonjour Paris (1939–1942) durch typische Landschafts- oder Stadtansichten eine Annäherung an das Land belegen, spiegeln sich die USA in den Werken des Künstlers kaum wider. Vielmehr beschäftigten Chagall die Geschehnisse in Europa und in seiner Heimat. Ein wiederkehrendes Motiv insbesondere der 1930er- und 1940er-Jahre ist seine Heimatstadt Witebsk, u.a. in „Die Dorfmadonna" (1938‒1942), „Der Traum" (ca. 1938/39) oder „Bei mir zu Hause" (1943). Sie wurde für Chagall zum Symbol für die Sehnsucht nach dem verlorenen, zerstörten Zuhause.
Der gekreuzigte Christus
Ende der 1930er-Jahre fand Chagall eine Bildsprache für die politischen und persönlichen Ereignisse seiner Zeit in religiösen und vornehmlich christlichen Motiven. Der gekreuzigte Christus wurde für den Künstler zum zentralen Sinnbild für das Leiden der europäischen Jüdinnen und Juden. In zahlreichen Werken wie „Die Kreuzigung in Gelb" (1942) oder „Apokalypse in Lila", „Capriccio" (1945) kennzeichnete er Christus durch Attribute wie den jüdischen Gebetsschal (Tallit) oder Gebetsriemen (Tefillin) eindeutig als Juden. Indem er die christliche Ikonografie mit den jüdischen Symbolen verknüpfte, entwickelte Chagall ein neues Narrativ und stilisierte Christus zu einem jüdischen Märtyrer. Mit seiner Frau Bella Chagall verband den Künstler eine außergewöhnliche Lebens- und Geistesgemeinschaft. In zahlreichen Gemälden visualisierte er das ikonische Bildmotiv des schwebenden, innig verbundenen Liebespaars. Chagall griff das Paarmotiv in verschiedenen Varianten und Posen auf, als singuläre Figuren, die sich im Bildraum bewegen, häufiger als Brautpaar, in eine dörfliche Szenerie eingebettet. 1945 entstanden die beiden monumentalen Gemälden „Um sie herum" und „Die Lichter der Hochzeit", in denen Chagall auch seine Trauer um die plötzlich verstorbene Bella zum Ausdruck brachte.
Der Engelsturz
Das Werk „Der Engelsturz" nimmt eine Sonderstellung in Chagalls Werk ein. Über einen Zeitraum von 24 Jahren arbeitete der Künstler in Paris, im US-amerikanischen Exil und wieder zurück in Europa immer wieder an diesem Gemälde. An diesem programmatischen Werk der 1930er- und 1940er-Jahre lässt sich in der Ausstellung anhand von Skizzen die Entwicklung der Bildelemente, die Verdunklung der Farbpalette und Chagalls intensive Auseinandersetzung besonders eindrücklich nachvollziehen. Der Künstler selbst bezeichnete das Gemälde nach 1945 als „das erste Bild der Serie von Vorahnungen“. Die heutige Datierung 1923 – 1933 – 1947 benennt die Vollendungszeitpunkte der drei verschiedenen Fassungen. Die Schirn beleuchtet auch Chagalls Schaffen während seines Exils in New York.
Neben Gemälden sind in der Ausstellung Kostüme aus dem Jahr 1942 für das Ballett Aleko, vertont von Pjotr Iljitsch Tschaikowski, zu sehen sowie Kostüm- und Vorhangentwürfe für „Der Feuervogel" zur Musik von Igor Strawinsky aus dem Jahr 1945. Für Chagall waren die Bühnenproduktionen nicht nur wichtige, öffentliche Aufträge, sondern gaben ihm auch die Möglichkeit, mit anderen russischen Exilanten, wie dem Choreografen Léonide Massine, zusammenzuarbeiten.
Das Ende des Zweiten Weltkriegs zeigt sich im Werk von Chagall ambivalent. In Gemälden wie „Die Seele der Stadt" (1945) oder „Selbstbildnis mit Wanduhr" (1947) thematisierte er den neuen Lebensabschnitt, ebenso aber seine Zerrissenheit aufgrund der persönlichen Situation. In vielen Gemälden wie „Die Kuh mit dem Sonnenschirm" (1946) lässt sich eine positivere Grundstimmung ausmachen, das Thema der Shoah bleibt ein fester Bestandteil in Chagalls späteren Arbeiten. Anschaulich wird Chagalls innerer Konflikt in dieser Übergangsphase auch an den doppelgesichtigen Porträts, in denen er häufig sein eigenes Gesicht mit dem seiner verstorbenen Frau verband, etwa in „Der schwarze Handschuh"(1923‒1948). Im August 1948 verließ Chagall sein US-amerikanisches Exil und kehrte gemeinsam mit seiner neuen Partnerin Virginia Haggard nach Frankreich zurück.