Der Verlust der Heimat verdammt zum Trauerlied, zur Fantasie, zum Kampf mit dem Gedächtnis und spiegelt sich neben der Kunst auch in literarischen Texten wider.
Im Gegensatz zu den meisten, vor allem europäischen, Einwander*innen in den USA, hat ein großer Teil der jüdischen Bevölkerung kein Land, keine Stadt, keine Straße, die diese Menschen wieder besuchen können. Die Orte, die Großeltern und Urgroßeltern verlassen haben, existieren nicht mehr. Was bleibt, ist eine Idealisierung der Alten Welt, eine Nostalgie des Unbekannten und des zugleich Eigenen, eine Sehnsucht nach der eigenen Geschichte. Der Verlust der Heimat verdammt zum Trauerlied, zur Fantasie, zum Kampf mit dem Gedächtnis und spiegelt sich neben der Kunst auch in literarischen Texten wider.
Ausgangspunkt für den SCHIRN BOOKCLUB sind daher Texte von Marc Chagall selbst sowie von seiner Frau Bella Chagall, die sich, in Anlehnung an ein Gedicht von Marc Chagall, mit ihrem „Distant Home“ beschäftigen. Dazu zählt die gemeinsame Heimatstadt Witebsk, die beide 1922 verlassen mussten und in die sie nie zurückkehren sollten, ebenso wie der Alltag und die Traditionen eines sich im Untergang befindlichen ostjüdischen Lebens. Das Schicksal der Chagalls, das in Auseinandersetzung mit ihren Texten in der ersten BOOKCLUB-Sitzung nahegebracht werden soll, ist jedoch kein Einzelfall. Die literarische Beschäftigung mit diesen Erfahrungen ist zahlreich, wenig bekannt sind allerdings die Stimmen der jüdischen Frauen, deren Texte ursprünglich auf Jiddisch erschienen und für die zweite Sitzung des SCHIRN BOOKCLUBS diskutiert werden. Kadia Molodowsky, Fradel Schtock und Anzia Yezeirska erzählen von der verlassenen Alten Welt, vom Aufbrechen und dem oftmals schwierigen Ankommen im neuen Land, Alltag und Leben. Der Begriff „Heimat“ bleibt bis heute schwer zu greifen und muss stets aus einer kritischen Perspektive betrachtet werden. Wie definieren wir „Heimat“ und „Zuhause“ heute? Diese Fragestellungen werden in der letzten BOOKCLUB-Veranstaltung anhand zeitgenössischer Texte von Laura Cazés und Mithu Sanyal kritisch beleuchtet.
Doch all dies kann nur als ein kleiner Auszug aus dem literarischen Reichtum, als eine erste Annäherung an die vielfältigen Bewältigungsformen verstanden werden, die sich in der jüdischen Literatur durch den Verlust der Heimat und der Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit manifestieren. Über ein Beispiel jüdischer Gegenwartsliteratur berichtet dieser Text.
Veronica Schanoes „Burning Girls“
In „Burning Girls“ erzählt Veronica Schanoes die Geschichte von zwei Schwestern. Die jungen Frauen emigrieren nach der Ermordung ihrer Familie während der Pogrome in die USA. Ihre Stärke, ihre Kraft, aber auch ihre Erinnerungen nehmen sie mit. Sie haben wenig Gepäck, aber die Vergangenheit wiegt schwer, so schreibt Schanoes:.
“When we came to America, we brought anger and socialism and hunger. We also brought our demons. They stowed away on the ships with us, curled up in the small sacks we slung over our shoulders, crept under our skirts. When we passed the medical examinations and stepped for the first time out onto the streets of granite we would call home, they were waiting for us, as though they’d been there the whole time.”
Schanoes verarbeitet Symbole, die das Leben im Schtetl rekonstruieren. Sie lenkt die Aufmerksamkeit auf das Leben der Frauen, auf Frauen, die für Frauen da sind, auf diejenigen, die den Unglücklichen einen sicheren Ort bieten, auf Hebammen, auf diejenigen, die Tag und Nacht arbeiten, auf die Mutigen und auf die Kräftigen.
Sie baut auf einer Tradition schreibender Frauen auf, die über das Schtetl, über die Freuden und Pflichten der Ehe, über religiöse Einschränkungen und über religiöses Glück, über die Migration und über den Holocaust geschrieben haben. Diese Texte waren angereichert von veltlekhkeyt, dem jiddisch-geprägten Säkularismus. Sie waren oft politisch, feministisch. Sie waren klug, fein, komplex. Bis in die 80er-Jahre waren kaum jiddisch-sprachige Prosaautorinnen bekannt. Die Jiddische Sprache – mameloshn – die Sprache der Mütter, war im Druck zumeist männlichen Stimmen vorbehalten. Autorinnen dieses Jahrhunderts schrieben kompromisslos in einer Sprache, die sich ihre Stellung in der Literatur schwer erkämpft hatte, die nach dem zweiten Weltkrieg in Europa nicht mehr zu hören war und sowohl in den säkularen Kreisen der Diaspora in Israel, als auch in den USA verdrängt wurde. Eine beeindruckende Übersicht dieser Texte bietet die Anthologie „Found Treasures“, aus der beim zweiten Treffen des BOOKCLUBS ausgewählte Beiträge gelesen werden.
Doch zurück zu Schanoes: Die Schwestern in ihrer Geschichte kommen zum Arbeiten und zum Überleben in die USA. Sie kommen aber nicht allein: Lilit, ein Dämon, folgt ihnen mit einem Fluch, zu dem sie noch in der Alten Welt verdammt wurden. Sie wehren sich gegen den Dämon, sie wehren sich gegen missbräuchliche Arbeitgeber*innen in Sweatshops, sie wehren sich gegen grausame Lebensbedingungen. Bis zum Brand einer Textilfabrik, einem historischen Bezug auf die Triangle Shirtwaist Factory. Die Geschichten von Schanoes sind Märchen, überfüllt mit klischeehaften Motiven. Aber ist es nicht der Sinn aller Märchen? Die Motive zu reinigen, sie zu putzen, zu baden, und uns wiederzugeben, um die Wirklichkeit leben zu lernen?
„I, a demon, bear witness that there are no more demons left. Why demons, when man himself is a demon? Why persuade to evil someone who is already convinced? I am the last of the persuaders. […] I speak in the present tense as for me time stands still.”, schreibt der jiddische Schriftsteller und Nobelpreiträger I.B. Singer.
Schanoes bezieht sich in ihrer Geschichte auf die Pogrome, die viele Juden und Jüdinnen zwischen 1881 und 1914 aus dem russischen Kaiserreich in die USA trieben. Die Republik Polen-Litauen wurde Ende des 18. Jahrhunderts aufgelöst und vollständig in das russische Kaiserreich eingegliedert. Ein Erlass von 1791 beschränkte das Leben der jüdischen Bevölkerung in der Folge auf Teile dieser Gebiete – Polen, Litauen, Belarus, den größten Teil der Ukraine, die Halbinsel Krim und Bessarabien. Nur hier, in dem „Ansiedlungsrayon“, durften Juden und Jüdinnen mit wenigen Ausnahmen leben und arbeiten. Es folgten weitere restriktive Gesetze im Bezug zur Freizügigkeit und zur Berufsausübung. Die jüdische Bevölkerung, die laut des Zensus von 1897 in dem Gebiet des Ansiedlungsrayons um die 5 Millionen Menschen plus ca. 200.000 im restlichen Kaiserreich erreichte, wurde in die Armut getrieben. Die Pogrome, besonders während 1881-84 und 1903-06, zerstörten die Hoffnungen auf eine zukünftige Lebenssicherheit. Mehr als 2 Millionen Jüdinnen und Juden emigrierten aus dem westlichen russischen Kaiserreich in den Jahren 1881-1914, die meisten reisten in die USA. Für sie wurde dieser Weg eine Rettung vor der Shoa, ein Überleben zum Preis von prekären Arbeitsverhältnissen bis hin zur Sklaverei. Wie diejenigen, die vor dem Zweiten Weltkrieg flüchteten, wussten sie nicht, dass ihre Heimatorte ausgelöscht werden. Sie würden sie nie wiedersehen.
Er hat noch vierzig Jahre nach dem zweiten Weltkrieg gelebt; Ich verstehe es einfach nicht, warum hat er denn die ganze Zeit nur die Heimat gemalt?
Von Heimat berichten, Zukunft bezeugen
„Er hat noch vierzig Jahre nach dem zweiten Weltkrieg gelebt; Ich verstehe es einfach nicht, warum hat er denn die ganze Zeit nur die Heimat gemalt?“, fragte eine Frau, ihre Ellenbogen auf die Knie gestützt, fordernd, nach der Ausstellungsführung durch Chagall. Welt in Aufruhr. Ich hielt den Atem an. Warum Jahre und Jahre das eine Motiv, gab es denn keine anderen?
Weil es schmerzt. Es schmerzt, nach hinten zu schauen, auf die Trümmer der Heimat. Und es schmerzt, nach vorne zu schauen, weil die Heimat der Sprache ebenfalls nicht mehr ist. Davon zeugt auch Schanoes Geschichte. Die Verwendung der jiddischen Ausdrücke ist ein Rückbezug Schanoes auf Vergangenes und ein Beweis der Zukunft der Ausgewanderten. Die überstilisierten Motive der vergangenen Welt, die als Identitätskitsch verworfen werden könnten, sie sind eine Heimat. Ein Märchen von der Heimat: Chagall musste nach Paris, um eine Kuh, einen Stier und ein Schaf zu zeichnen. Denn was sind Erinnerungen, unsere subjektiven Welten, wenn nicht Märchen unserer Selbst? In Märchen gibt es keine Zeit. Sie steht still und schützt die Klarheit der Symbole, die wiederholt und wiederholt werden, wie ein Mantra, ein Gebet, um Wahrheiten zu finden. Sie sind das Objektivste, das wir kennen, sie sind unsere Innenwelten, die uns am nächsten sind. Unapologetisch über die eigene Herkunft sprechen, von ihr erzählen – wollen Sie das hören?
Es war einmal…
DER SCHIRN BOOKCLUB ZU CHAGALL. WELT IN AUFRUHR
DONNERSTAG, 8. DEZEMBER, 19. JANUAR, 16. FEBRUAR, 19 UHR