Sieben lange Jahre verbrachte Marc Chagall in den USA. Spuren seines Aufenthaltes lassen sich in ganz New York finden – darunter ein majestätischer Löwenkopf, Papagenos Hose und Wandgemälde, die leuchten wie eine Schachtel voll Edelsteine.
Ich bin spät dran und super aufgeregt. Um es noch zeitig zu meinem Besuch im Archiv der Metropolitan Opera zu schaffen, hechte ich aus der U-Bahn. Nachdem ich einen der Wachmänner nach dem Weg gefragt habe, nehme ich den Aufzug runter in die Parkgarage, um den Hinweisen zum Bühneneingang zu folgen. Noch zwei Mal verlaufe ich mich, bevor ich endlich das erleuchtete Schild über der unmarkierten schwarzen Metalltür sehe. Ich setze meine Maske auf – Masken sind zu diesem Zeitpunkt immer noch obligatorisch in der Schaltzentrale der Oper – und schlüpfe ins Gebäude. Es ist Freitagvormittag und einige der Mitarbeiter*innen der Oper rauschen in Eile durch die Sicherheitstüren, um es zu ihren Terminen und Proben zu schaffen. Die Saisoneröffnung ist nur einige Tage her und das Gebäude summt noch von der Aufregung des Herbstprogramms. Farbenfrohe Blätterdekorationen zieren den Wartebereich und ein kleines, aber feines Bouquet von gelben Hyazinthen wurde für die Sopranistin auf einer der Holzbänke abgelegt.
Das Archiv der Metropolitan Opera
Der Sicherheitsbeauftragte sitzt erhöht in einem gläsernen Kasten in der Mitte des Eingangs und überprüft Besucher*innenausweise und Anlieferungen. Ich frage nach meinem Kontakt und nur wenige Minuten später erscheint John, der Archivar der Metropolitan Opera. Er ist überraschend jung – ich bin nicht ganz sicher, warum ich einen älteren Herren erwartet hatte – und hat ein ansteckendes Lächeln sowie einen Schopf voll rot-brauner Locken. Er führt mich durch ein Labyrinth an Korridoren, vorbei an der sehr offiziell aussehenden Bühnentür – „diese Tür MUSS 15 Minuten vor Proben und Aufführungen geschlossen sein“ – bis wir endlich den Eingang zu den heiligen Hallen erreichen: das Archiv. Die Decken sind relativ tief und es gibt keine Fenster, trotzdem ist der Raum eine ganz besondere Fundgrube. Überall sind Schmuckstücke, Büsten und Bilder von berühmten Aufführungen. Poster, Programmhefte, Bücher und Requisiten (darunter ein Wikingerschild!) sind in graue Metallregale gestopft.
Rudolf Bing, Hauptgeschäftsführer der Metropolitan Opera von 1950 bis 1972, trat bereits im Herbst 1963 mit der Idee an Marc Chagall heran, die Kostüme und Bühnenbilder für die Neuaufführung der „Zauberflöte" 1967 zu gestalten. Chagall hatte bis dato bereits an Kostümen für zwei New Yorker Ballette, „Aleko" und „Firebird", gearbeitet, jedoch noch nie an einer Oper. Er befand sich zu der Zeit zwar schon wieder in Europa, war jedoch begeistert über die Möglichkeit an diesem Projekt mitzuwirken. Insgesamt 16 Hintergründe erstellte er, jeder in seiner eigenen Farbpalette, sowie alle Kostüme und Requisiten – von Löwenköpfen bis zu Vogelkäfigen, jedes Bühnenelement wurde vom Meister höchstpersönlich bearbeitet.
John gibt mir ein paar weiße Handschuhe. Auf einem Tisch zu unserer Linken liegen zwei große graue Papierboxen. Er hebt den Deckel der ersten an und ein Regenbogen an Farben und Formen springt heraus. Sterne, Augen und Federn lugen aus Lagen von Kostümen hervor. Das erste Kostüm ist die Lady of the Night, mitternachtsblau, Lavendel-Lila und gelb-gold. Manche der Details sind durch extra Stoff aufgenäht, andere direkt mit der Hand auf die schwere Seide gemalt, die als Hintergrund für die farbenfrohe Kollage dient. Wir arbeiten uns durch eine Reihe an Kostümen von Papagenos Hose (die vorne und hinten Federn hat!) zu handbemalten Schals, Hüten, Leggings und Schuhen. Aber das Opus Magnum der Sammlung – und Johns Lieblingsstück – ist der majestätische Kopf eines Löwen, handgefertigt aus Pappmaché mit Atmungslöchern, die vom ebenfalls bemaltem Netzstoff versteckt werden.
Nachdem wir uns intensiv mit diesen Meisterstücken beschäftigt haben, setzen wir uns an einen der Arbeitsplätze und John schiebt mir einen Stapel Bücher, die Zeichnungen und Skizzen von den Kostümen beinhalten, sowie Fotos von der Premiere der „Zauberflöte" 1967 zu – und alles macht mit einem Mal Sinn. Es gibt eine klare Linie von den Skizzen über die Kostüme bis zu den Fotos der getragenen Kostüme auf der Bühne. Fast wie Magie. Und als Johns Kollegin mir dann auch noch einen handgeschriebenen Brief von Chagall zeigt, den sie soeben in einer Box gefunden hat, ist es fast zu schön, um wahr zu sein.
Jüdische Lebenskultur am Riverside Drive
Ich bin ein bisschen traurig als ich dieses Wunderland aus Kitsch und Klüngel verlassen muss, aber alles Gute muss einmal zu Ende gehen – und John muss zum Zahnarzt. Also mache ich mich auf den Rückweg durch das Labyrinth und trete zurück ins Tageslicht der 64th Street.
Es gibt noch einen letzten Stopp auf meiner Liste von Marc Chagalls Spuren durch New York City: das gemeinsame Apartment mit Ida auf dem Riverside Drive, am anderen Ende der UWS direkt beim Hudson River. Nachdem Bella verstorben war, hatte es sich Ida zur Aufgabe gemacht, für ihren Vater zu sorgen. Sie mieteten das Apartment am 42 Riverside Drive mit Sicht über den Fluss. Dort verbrachte Chagall Wochen damit, sich durch die Prosa seiner Frau zu arbeiten, sie neu zu arrangieren und für die Veröffentlichung vorzubereiten. Hier begann er nach einer längeren Pause auch wieder an seinen eigenen Bildern zu arbeiten. Zuerst zerschnitt und adaptierter er alte Gemälde, die er aus Frankreich mitgebracht hatte, um die Verbindung zu Bella so lange wie möglich aufrecht zu erhalten. Er gab diesen Bildern jedoch einen dunkleren Ton als Symbol seines immensen Verlustes.
Es fängt an leicht zu nieseln als ich am 42 Riverside Drive ankomme. Das Gebäude ist ein klassisches, drei-stöckiges UWS-Schmuckstück mit Erkern und einem opulenten Eingang. Vier nicht allzu hohe Stufen führen zum gusseisernen Tor und ein Blick auf die Liste der Bewohner*innen offenbart eine überraschende Anzahl von europäisch klingenden Namen. Der Columbia Campus ist nicht weit von hier ebenso wie Zabar’s – ein jüdisches Spezialitätengeschäft, das für seine Bagel mit Räucherlachs und Frischkäse bekannt ist. Das jüdische Leben ist lebendig in diesem Teil der UWS, ihren Vater hierher zu holen war eine gute Idee von Ida. Die Sonne geht langsam unter und ich mache mich auf den Weg den Broadway hinunter. Hier oben geht der Verkehr sowohl up als auch down town, die beiden Spuren sind durch einen schmalen Grünstreifen getrennt, der besonders schön in der blauen Stunde des Tages aussieht. Die Straßenlampen gehen an und der Himmel wechselt von blau zu schwarz als ich am Lincoln Center ankomme, um die Chagall Wandgemälde im Dunkeln anzuschauen. Sie leuchten wie eine Schachtel voll Edelsteine durch die Glasfassade: „The Sources of Music“ und „The Triumph of Music“.
Epilog
Die Verbindung wird aufgebaut… Drei kleine Punkte tanzen in der linken unteren Ecke meines Bildschirms. Als das Bild endlich aufpoppt, kann ich einen großen Raum mit hohen Decken sehen voll mit Blumen, Arbeitsgeräten und einer langen Reihe von Deckenlampen. In der Ferne sind zwei Leute, die etwas eingehend besprechen. Eine von ihnen läuft in Richtung Bildschirm und setzt sich hin. Nachdem wir uns in New York verpasst haben, hat sich Bella Meyer, die Enkelin von Marc Chagall, dazu bereit erklärt, einen virtuellen Chat über ihren Großvater und seine Zeit in New York mit mir zu führen. Ihre grauen Haare sind kurz und zerzaust, sie trägt eine Cognac-farbene Strickjacke und ein passendes Halstuch, was ihr ein französisches Flair verleiht. Sie und ihre Zwillingsschwester wurden in Paris geboren und wuchsen in der Schweiz auf, am Ende zog es sie aber nach New York, um das „Geheimnis der Stadt“ zu erforschen.
„Mein Großvater mochte es gar nicht, dass ich in die USA gezogen bin. Aber als ich ihm meinen zukünftigen Mann vorstellte war er glücklich und rief: „Jetzt kannst du endlich meine Bilder verstehen.“ Bella arbeitete in unterschiedlichsten kreativen Berufen von Kostümdesign bis Puppenspiel bevor sie schlussendlich Floristin wurde. Sie hat ihren eigenen Blumendesignladen, fleursBELLA, weil sie das starke Bedürfnis verspürte, die große Vielfalt an Farben und Formen, die Blumen bieten, zu nutzen, um Geschichten zu erzählen. Nicht unähnlich zu dem, was ihr Großvater mit Pinsel und Farbe vollbracht hat. „Ja, er ist sehr präsent in meinem Geist. In meiner Seele.“ Als ich sie nach seiner Zeit in New York frage, schüttelt sie den Kopf: „Er hat nie mit uns über diese Zeit gesprochen. Er hat jedoch in jener Zeit herausragende Gemälde kreiert. Er war politisch sehr engagiert, nicht als Aktivist, er hat durch seine Kunst gekämpft. Seine Arbeiten zeigen eine tiefe Notwendigkeit, das Überleben und die Kraft der Menschheit und ihren Kampfesgeist auszudrücken. Die Ära, welche die SCHIRN zeigt, ist nicht düster für mich, sondern machtvoll. Ein Statement des Widerstandes.“
Die Ära, welche die SCHIRN zeigt, ist nicht düster für mich, sondern machtvoll. Ein Statement des Widerstandes.