Marc und Bella Chagall fanden in New York einen sicheren Hafen, als ihnen die Nationalsozialist*innen das Leben in Europa unmöglich machten. Doch wie sah das New York zu ihren Lebzeiten aus und wo haben sie sich aufgehalten? Eine Spurensuche in zwei Teilen.
Der Tag, an dem Marc Chagall und seine Frau Bella das erste Mal den Boden in New York berührten, ist der Tag, an dem Deutschland in Russland einmarschierte (21. Juni 1941). Das Paar hat lange Zeit in Frankreich ausgeharrt, bis sie schließlich mit der Hilfe von Alfred H. Barr Jr., dem ersten Direktor des Museum of Modern Art (MoMA) und Varian Fry, einem amerikanischen Journalisten, in die USA flohen. Fry war der Gründer des Emergency Rescue Committees, mit dessen Hilfe mehr als 3000 jüdische Flüchtlinge aus Nazi-Deutschland gerettet und vor dem Holocaust bewahrt wurden.
Als klar wurde, dass europäische Städte – allen voran Paris – nicht mehr sicher für jüdische Künstler*innen waren, stellten Barr und seine Frau eine Liste von Künstler*innen zusammen, die unter anderem Marc Chagall, Max Ernst und viele andere beinhaltete. Künstler*innen also, die sie im MoMA ausstellen wollten und denen die USA somit amerikanische Visa ausstellen konnte. Fry flog mit dieser Liste und 200 Visa in seiner Tasche nach Marseille. Wegen des immer stärker werdenden Antisemitismus hatte Chagall Paris bereits verlassen und war ins französische Hinterland geflohen. Er wurde in Marseille verhaftet und Fry konnte ihn nur unter Androhung, die New York Times zu informieren und so einen internationalen Skandal auszulösen, wieder herausholen.
Dies war der letzte Anstoß, den die Chagalls brauchten: in den nächsten Tagen reisten sie direkt nach Lissabon, um von dort mit der SS Pinto Basto Richtung New York zu segeln. Marc und Bella mussten ihre Tochter Ida und deren Mann zurücklassen, ohne zu wissen, ob sie die beiden oder Europa jemals wieder sehen würden.
Eine Kindheitserinnerung im MoMA
Es ist ein außerordentlich regnerischer Tag in New York. Hurrikan Ian hat sich nun doch die Küste von Florida heraufgearbeitet, als ich im morgendlichen Verkehr die 6th Avenue Richtung MoMA entlangfahre. Ich bin in New York, um den Spuren von Marc Chagall während seiner Zeit von 1941 bis 1948 durch die Stadt zu folgen. Wie erwartet ist das Museum voll mit Tourist*innen und New Yorker*innen, die vor dem nassen Wetter fliehen und den Morgen mit der Kontemplation von Kunst verbringen wollen. Das MoMA besitzt 215 Werke von Marc Chagall, angefangen bei Zeichnungen über Skizzen und Kostümdesigns bis hin zu Gemälden, aber nur eins ist aktuell im Museum zu sehen. Wer schon einmal im MoMA war, weiß, dass vor allem die Galerien des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts besonders beliebt sind. In etwa so, als wenn man im Louvre die Mona Lisa sehen will.
Es dauert also einige Zeit, bis ich es die Rolltreppe hinaufschaffe und nach einigem hin- und herwandern durch die Räume endlich auf „I and the Village“(1911) treffe. Das Gemälde hängt an einer klassisch weißen Wand in den Räumen der Alfred H. Barr Jr. Galerie – wie passend, nicht wahr? Entstanden in Paris, im Jahr nachdem er Witebsk (das kleine Dorf im heutigen Belarus, wo er geboren wurde) verlassen hat, ist es eine Erinnerung an seine Kindheit. Mit Tieren und Menschen, die denselben Raum einnehmen, ist das Gemälde im bunten, folkloristischen Stil gehalten, für den Chagall bekannt ist. So anders als die Bilder, die er 30 Jahre später malte – ebenfalls nach einem Umzug, jedoch einem unfreiwilligen von Frankreich in die USA. New York wurde nie zu seinem Zuhause, er lernte kein Englisch, oder versuchte sich ins amerikanische Leben zu integrieren und sehnte sich während des gesamten siebenjährigen Exils zurück nach Europa, genauer nach Paris.
Vom Flüchtlingsheim zum Pradastore
Von Midtown aus nehme ich die U-Bahn Uptown an die Upper East Side (UES), um Hampton House zu besuchen. Einst eine erste Anlaufstelle für Geflüchtete aus Europa, ist es heute ein luxuriöses Apartmentgebäude, das Pradas New York Mansion im Erdgeschoss beherbergt. Die kalksteinfarbenen Backsteine und die einfachen schwarzen Metallfensterrahmen sind eher unauffällig, typisch vor allem für die Seitenstraßen in dieser Gegend der UES, anders als die beeindruckenden Gebäude auf der Park- und Madison Avenue direkt um die Ecke. Gerade in New York angekommen, kamen Bella und Marc temporär in Hampton House unter, während sie fieberhaft auf das Eintreffen von Ida und Michel warteten. Ida und ihr Mann hatten sich die Überfahrt auf einem der letzten Schiffe Richtung USA gesichert, der SS Navemar – einem Frachtschiff, das umgerüstet worden war zum Transport von über 1000 Europäer*innen in die USA.
Die hygienischen Bedingungen waren furchtbar, Typhus brach aus und fast vom ersten Tag an gab es weder genug Wasser noch Lebensmittel. Ida hatte es sich zur Aufgabe gemacht, die Werke ihres Vaters, untergebracht in zwei massiven Kisten, vor Passagieren, eindringendem Wasser und allem, was ihnen sonst noch gefährlich werden konnte, zu beschützen, indem sie auf ihnen saß – Tag und Nacht. Als sie schließlich in New York ankamen, war Ida schwer krank, aber die Kunst ihres Vaters war sicher und unversehrt, anders als viele andere Kisten, die im Bug des Schiffes komplett unter Wasser standen. Es war die letzte Reise der SS Navemar, auf dem Rückweg nach Europa wurde sie von Nazis Torpedos getroffen und versank in der Meerenge von Gibraltar.
Das Leben in New York war nicht einfach für die Chagalls. Obwohl sie dankbar waren, dem Horror in Europa entronnen zu sein – dankbar, aber unglücklich – belastete sie das Exil sehr und sie sehnten sie nach Paris und ihrer Heimat. Chagalls Farbpalette veränderte sich in dieser Zeit, wurde dunkler und die Themen gingen immer mehr in Richtung Identität, Heimatland und Exil. Und dann passierte das Unfassbare, das Unmögliche: Bella, Chagalls Frau und langjährige Muse, seine Verbindung zur alten Welt von Witebsk und Russland, verstarb plötzlich und unerwartet im September 1944.
„Das bestgehütete Geheimnis New Yorks”
Es ist einer dieser ersten kalten Oktobertage, als ich an der Riverside Memorial Chapel in der Upper West Side (UWS) ankomme – die Kapelle, in der Bellas Beerdigungsdienst stattgefunden hat. Das Gebäude ist komplett von einem Baugerüst eingefasst und ich verpasse fast den Haupteingang. Nach dem Eintreten wird mir mein Fehler sofort klar: Dies ist keine öffentliche Kapelle, sondern ein Bestattungshaus. Trotzdem versuche ich es in dem nächstgelegenen Büro und habe Glück: Ein freundliches Gesicht erklärt sich bereit, mir das Gebäude zu zeigen (für den Fall, dass ich bald einen Angehörigen habe, der beerdigt werden muss). „Welche Kapelle würden Sie gerne sehen?“ fragt sie mich, schiebt aber direkt hinterher: „Die Gothic Kapelle ist unser größter Raum.“ Wir steigen in einen alten Messingaufzug, der noch mit einer Handkurbel bedient wird und fahren ein Stockwerk hinauf. Von dort geht es weiter über eine Treppe, die mit einem dicken Teppich ausgelegt ist, der alle Geräusche zu schlucken scheint. Wir kommen an einem kleinen Raum vorbei, der nur von einer Schreibtischlampe erleuchtet wird und mit einem buttergelben Lederstuhl und einem Mahagonny-Sekretär ausgestattet ist. Das einzige Fenster im Raum ist noch von der Klimaanlage blockiert. „Hier macht sich der Rabbi fertig” erzählt sie mir. Nachdem wir einen langen Korridor entlanggelaufen sind, öffnet sie schließlich eine einfache Holztür und wir treten mitten in einen Traum. „Ich nenne es das bestgehütete Geheimnis von New York“, sie lächelt. Und das ist es, wahrlich.
In der Mitte der UWS gibt es eine Kapelle mit gewölbten Decken, zwei Stockwerke hoch, die an den Nachthimmel erinnern sollen, blassblau mit goldenen Sternen. Die Glasfenster und Wandgemälde zeigen klassische jüdischen Szenen und die Kapelle kann 350 Leute beherbergen. Während ich noch tief Luft hole, greift sie zum Wandtelefon und ruft Hilfe, um die Art-Deco-inspirierten Leuchter, die von den drei Kuppeln der Decke hängen, anzumachen. Kurze Zeit später leuchtet der Raum in sanftem Licht.
Ich verlasse die Kapelle durch den Seiteneingang in Richtung Central Park West und gehe von dort in die 68th Street, um einen Blick in die Stephen Wise Free Synagogue zu werfen, wo die Chagall Familie das Kaddisch für Bella gehalten hat. Das Kaddisch ist ein jüdisches Gebet, das traditionell gehalten wird, wenn Angehörige gestorben sind. Die Synagoge ist geschlossen (es ist ja auch Freitagmorgen) und ist ebenfalls in ein Gerüst mit einer großen Plane eingewickelt. Der Wind wird wieder stärker und ich ziehe meinen Schal ein bisschen enger, drehe mich weg vom Eingang und laufe zurück zum Central Park. Die Blätter haben angefangen sich gelb, orange und einige wenige bereits rot zu färben. Ich schlendere Richtung Süd-Ost Ende des Parks, bis ich das Plaza Hotel über den Bäumen aufragen sehe und denke an Marc und Bella, die einige Nächte nach ihrer Ankunft in der majestätischen alten Dame verbracht haben. Und obwohl sie nie wirklich mit der Stadt, die niemals schläft, warm geworden sind, kann ich mir doch keinen besseren Ort vorstellen, um seinen müden Geist niederzulegen, wenn auch nur für kurze Zeit.