In einem Regime, das Frauen jahrzehntelang systematisch diskriminierte, steigerte sich der zivile Widerstand 2019 zu einem nie dagewesenen Höhepunkt. Leitfiguren dieser bis heute andauernden Protestbewegung sind die sudanesischen Frauen – wie sich zeigt, nicht zum ersten Mal.
Im Jahr 2019 machten die zivilen Proteste im Sudan internationale Schlagzeilen. Und das vor allem dank eines zur Ikone gewordenen Schnappschusses. Dieser zeigte eine der jungen Demonstrantinnen, die während der drei Monate anhaltenden Sitzblockade gegen die Militärdiktatur abgelichtet wurde. Die Erzählung der feministischen Dezemberrevolution im Sudan war geboren und ebnete sich ihren Weg durch die internationale Presse.
Das am 8. April 2019 von Lana Haroun geschossene Foto zeigt die damals 22-jährige Architekturstudentin Alaa Salah und geht binnen weniger Stunden viral. Auf dem Foto steht sie auf dem Dach eines Autos mit erhobenem Zeigefinger, während sie ein Gedicht rezitiert. Sie ist umringt von einer protestierenden Menschenmasse, die ihr zujubelt, sie filmt und gerade dabei ist, den 30-jährigen Machtanspruch des Diktators Omar El Bashir gewaltfrei zu beenden. Sein Regime hatte Frauen systematisch diskriminiert und aus wichtigen Rollen verdrängt. Während dieses historischen Moments trägt Salah ein Toub – ein über vier Meter langes weißes Tuch, das ihren Körper von Kopf bis Fuß mit einer Wickeltechnik bedeckt und im 19. Jahrhundert erstmals aufkam. Das Foto wurde in den Sozialen Medien von europäischen und US-amerikanischen Nutzer*innen mit dem Portrait der Marianne des französischen Malers Eugéne Delacroix sowie der Freiheitsstatue in New York verglichen. Doch zeigt sich in der Szene auch eine spezielle sudanesische Symbolik und Tradition.
Historische Symbole des weiblichen Widerstandes
Frauen haben in der langen Geschichte in den Gebieten des heutigen Sudans relevante Führungsrollen im privaten und öffentlichen Raum übernommen, auch in Zeiten der Repression wie im Jahr 2019. Eine bestimmte Mode zeigte sich dabei innerhalb der Protestbewegungen des letzten Jahrhunderts – das weiße Toub. So zum Beispiel schon 1953 im Zuge der Proteste für eine Unabhängigkeit des Sudans von der britischen Kolonialherrschaft. Damals protestierten hunderte Frauen in der historischen Stadt Omdurman in weißen Toubs für ihre Freiheit und marschierten in die Hauptstadt Khartum mit dem Slogan „Es lebe der Sudan”.
Während des zivilen Ungehorsams der jüngsten Zeit, haben sich Frauen immer wieder auf solche historischen Symbole sowie Gedichte, Slogans und Begriffe bezogen, die teils sogar Jahrtausende in die Geschichte zurück reichen. Aktivistinnen wie Alaa Salah, die sich die Symbolwirkung des Toubs zu Nutze machte, wurden während der Proteste vor allem als „Kandake“ bezeichnet – ein antiker Titel, der Königinnen und Königsmüttern vorbehalten war.
Dieser meroitische Begriff bezieht sich auf die royalen Frauen, die vor über 2000 Jahren im heutigen Gebiet des Sudans die pharaonischen Könige zur Welt brachten und auch selbst als Matriarchinnen regierten. Am bekanntesten ist wohl Amanirenas, die 25 v. Chr. eine Armee von 30.000 Menschen anführte und damit die römische Invasion und Vereinnahmung ihres Reiches zurückschlug. Reliefs an den Wänden von Tempeln zeigen diese Königinnen in herrschaftlichen Posen und erzählen ihre Geschichte.
Kunst als Hommage an die Frauen der Revolution
Während der Dezemberrevolution nutzten Künstlerinnen ebenfalls Wände als Medium, um ihre sozio-politischen Botschaften zu verbreiten und die Frauen der Revolution zu feiern. Alaa Satir ist eine der Künstlerinnen, deren Arbeiten in der Nähe des Militärhauptquartiers für Aufmerksamkeit sorgten. Nach der drei Jahrzehnte lang anhaltenden Diktatur wurde die Sitzblockade zu einem Ort des utopischen Zusammenseins, in dem Kunst und Kultur blühten und gesellschaftliche Hierarchien neu verhandelt wurden. Satirs Wandgemälde zeigt die schwarz-weiße Zeichnung einer Frau mit typischem Brautohrring, den auch Salah auf dem Schnappschuss trägt. Unter dem Foto, das die Künstlerin am 11.04. 2019 teilte, schrieb sie, was auch auf der Wand zu lesen ist: „Hey Ladies, bleibt standhaft, das ist eine Revolution der Frauen.“
Die Fotografin Metche Ja’afar verfolgt eine weitere Form des künstlerischen Widerstandes und dokumentiert bis heute die anhaltenden Proteste. Neben Graffitis und schwer bewaffneten Sicherheitskräften offenbart sie, wie Frauen ihre Körper selbst zur Leinwand machen. Zu Beginn der Revolution fanden sich in den Sozialen Medien immer mehr Fotos von Frauen mit Henna-Tätowierungen, die Slogans der Revolution und verschiedene Symbole des Widerstands zeigten. Der Gefahr trotzend, von Polizei und Militär verhaftet zu werden, bewegten sich immer mehr Demonstrant*innen so durch den öffentlichen Raum. Der Kreativität des weiblichen Widerstands schienen keine Grenzen gesetzt.
Und auch die Malerin Amna Elhassan, deren Werke zurzeit auf der Glasfassade und im ersten Obergeschoss der Rotunde zu sehen sind, wurde von der langen Geschichte und den seit 2018 anhaltenden Protesten nachhaltig geprägt. Ein Gespräch mit der aus ihrer Nachbarschaft stammenden Ahlam Khidir war ein einschneidendes Erlebnis für die Künstlerin. Khidir wurde als Mutter der Revolution bekannt, nachdem ihr Sohn Ha’zaa Hassan 2013 bei einem Protest umgebracht wurde. Nach seinem Tod begann ihr politisches Engagement und sie vernetzte sich mit den jungen Demonstrant*innen. Von Khidirs Erzählungen stark berührt, wollte auch Elhassan den Frauen der Revolution und den getöteten Demonstrant*innen ein Denkmal setzen. Sie ist die erste afrikanische Künstlerin, die die Rotunde der Schirn Kunsthalle gestaltet. Auch sie selbst schreibt also Geschichte.
Umgeben zu sein von Frauen, die führende Positionen besetzen, laut und willensstark ihre Meinung öffentlich kundtun und sich gegen Unterdrückung einsetzen, bestimmt ihr derzeitiges künstlerisches Schaffen. Sie portraitiert die Resilienz und Durchsetzungskraft, die ihr im Alltag und in besonderen Momenten begegnen. Als Dozentin für Architektur an der Universität Khartum und Zeitzeugin der anhaltenden Proteste für Demokratie gegen Autokratie und Militärherrschaft, erlebt die Künstlerin, wie mit brutaler Gewalt gegen die jungen Demonstrant*innen ihrer Generation vorgegangen wird.
Das Massaker am 3. Juni 2019, welches die Sitzblockade, an der Alaa Salah, Alaa Satir, Metche Ja’afar und auch Amna Elhassan teilgenommen haben, brutal beendete, kostete mehr als hundert Menschenleben. Viele davon Jugendliche, Teefrauen und weitere friedliche Aktivist*innen, denen im Kampf um „Freiheit, Frieden und Gerechtigkeit” das Leben genommen wurde und deren Körper im Nil verschwanden. Diesen Menschen widmet die Künstlerin ihre erste großformatige Installation in der Rotunde. Mit der ortsspezifischen Arbeit „Dezember” schafft sie eine Hommage an jene Menschen, deren Leben abrupt beendet wurden.
AMNA ELHASSAN. DECONSTRUCTED BODIES – IN SEARCH OF HOME
4. November 2022 – 12. Februar 2023