Frauen wurden in der Kunstgeschichte über Jahrhunderte systematisch ausgeschlossen. Über das Leben und Werden von Künstlerinnen in der Zeit von Paula Modersohn-Becker.
Die westliche(n) Kunstgeschichte(n) sind durchzogen von Anekdoten und Künstlermythen, die die Figur des weißen, cis-männlichen* Künstlers konstruieren. Frauen, genauso wie andere marginalisierte Gruppen, wurden über Jahrhunderte systematisch ausgeschlossen. Der Zugang zu einer professionellen Ausbildung blieb ihnen weit bis ins 19. Jahrhundert und länger verwehrt. Auch nach der langwierigen, sukzessiven Öffnung blieben Staatliche Kunsthochschulen von weißen Männern dominierte Institutionen. Das beeinflusste die Sammlungen der Museen, das Ausstellungsprogramm, den Kunsthandel, die Kunstförderung und damit auch die Kanonbildung sowie unsere Wahrnehmung von Kunst und prägt diese bis heute.
Ein Leben als professionelle Künstlerin wurde durch die soziale und politische Ausgrenzung für die meisten Frauen ausgebremst – oft kamen die wenigen Künstlerinnen aus Künstlerfamilien oder waren mit einem Künstler verheiratet. Dies machte die Ermöglichung einer künstlerischen Ausbildung im 19. Jahrhundert umso wichtiger. Kunsthochschulen waren nicht nur ein Ort des Lernens, sondern auch des Austauschs und damit ein erster gesellschaftlicher Wendepunkt für das Künstlerinnen-sein.
Kunsthochschulen waren nicht nur ein Ort des Lernens
Künstlerinnen, wie die Mitbegründerin der Unabhängigen – später als Impressionisten bekannt – Berthe Morisot oder Meta Vaux Warrick Fuller genossen zu Lebzeiten großes und auch internationales Ansehen, blieben aber sehr lange Zeit vergessen. Morisots Arbeiten wurden in Ausstellungen in Paris und New York gezeigt, auch nahm sie aktiv als angesehene Künstlerin am kulturellen Leben teil. So urteilte der Kunstkritiker Paul Mantz über Morisot beispielsweise im Jahr 1877: „Es gibt in dieser revolutionären Gruppe nur einen Impressionisten: das ist Mademoiselle Berthe Morisot“. Oft erzielte sie sogar höhere Verkaufspreise als ihre Künstlerkollegen und wurde von Kritikern durchaus wahrgenommen – wenn auch unter einer Lupe, die immer nach „dem Weiblichen“ in ihrer Kunst fragte.
1880 schrieb der Kritiker Albert Wolff im Figaro: „Es gibt auch eine Frau in der Gruppe, wie immer bei solchen Banden. Sie heißt Berthe Morisot, und sie ist interessant zu beobachten. Weibliche Anmut bleibt ihr erhalten trotz allen Wahnsinns im Geiste“. Viele Künstlerinnen wurden gerne des „Wahnsinns“ bezichtigt und ihnen damit ihre Errungenschaften aberkannt. Ein durchaus übliches Narrativ, das auch außerhalb der Kunst bis ins 20. Jahrhundert gebraucht wurde, um Frauen zu diffamieren. Morisot wurde nach ihrem Tod noch bis ins 21. Jahrhundert selten berücksichtigt. Erst ab den 1970er-Jahren widmete sich eine neue Generation feministischer Kunsthistoriker*innen dem Werk Morisots und bereitete den Weg zu großen, aber späten Museumsausstellungen wie die Retrospektive im Museée d´Orsay 2019 oder die Schau Impressionistinnen. Berthe Morisot – Mary Cassat – Eva Gonzalès – Marie Bracquemond in der Schirn 2008.
Künstlerinnen wurden gerne des „Wahnsinns“ bezichtigt
Die US-amerikanische Bildhauerin Meta Vaux Warrick Fuller, die neben ihren Plastiken auch Gemälde und Gedichte schuf, galt zu Lebzeiten als wichtige afroamerikanische Künstlerin und machte sich auch später in Paris einen Namen. Ihre Arbeiten wurden in der Weltausstellung in Chicago 1893 sowie an der Pennsylvania Academy of Fine Arts ausgestellt. 1907 erhielt sie als erste Schwarze Frau einen Regierungsauftrag der USA und erstellte für die Jamestown Tercentennial Exposition in Norfolk, Virginia, das Tableau „Landing of First Twenty Slaves at Jamestown“. Bestehend aus 24 plastischen Figuren, bildete es das Leben versklavter Menschen mit ihrer Ankunft in Jamestown 1619 ab. Nach ihrem Tod bis Ende des 20. Jahrhunderts ignoriert, gilt sie heute als Vorreiterin der Harlem Renaissance und als die erste anerkannte Schwarze Bildhauerin in den USA.
Warrick Fuller konnte im Gegensatz zu vielen Zeitgenossinnen bereits früh an der Kunstschule von J. Liberty Tadd und ab 1894 mit einem Stipendium an der Pennsylvania Museum and School of Industrial Art ausgebildet werden. Malerinnen wie Berthe Morisot oder die Autodidaktin Suzanne Valadon, gehörten noch einer Generation in Frankreich an, der der Zugang zu den Staatlichen Akademien versperrt blieb.
Morisot, die aus einer wohlhabenden Familie kam, nahm zwar nur private Zeichen- und Malstunden, jedoch bei sehr guten Lehrern und stellte trotz aller Widerstände regelmäßig im jährlichen Salon – der großen Kunstschau in Paris – aus. Im Gegensatz dazu stammte Valadon aus armen Verhältnissen am Pariser Montmartre. Sie arbeitete mehrere Jahre als Aktmodell für Auguste Renoir, Henri de Toulouse-Lautrec und Paul Degas und lernte das Malen und Zeichnen durch Beobachtung und aufmerksames Studieren. Schnell gehörte sie zu den bekanntesten Künstlerinnen ihrer Zeit und konnte sogar von ihrer Kunst leben. Den gesellschaftlichen Vorstellungen zum Trotz erkämpften sich Morisot und Valadon also auch ohne eine akademische Ausbildung ihre Rolle als Künstlerinnen in der bedeutenden Kunstmetropole Paris und darüber hinaus.
„Schülerinnen finden keine Aufnahme“ hieß es noch 1906 im Leitfaden der Königlichen akademischen Hochschule für die Bildenden Künste (heute Universität der Künste Berlin). 1919 wurden in Deutschland das Frauenwahlrecht und die verfassungsrechtliche Gleichstellung der Frau eingeführt, die den Weg für mehr Bildungschancen ebnete. Einzelne Akademien, darunter Düsseldorf und München, zögerten die Aufnahme noch bis 1920/21 hinaus. Kunstgewerbeschulen nahmen Frauen schon länger auf, ihr Ansehen war aber nicht vergleichbar mit dem der Kunstakademien und auch der Lehrplan unterschied sich drastisch. Anders als in Frankreich und Deutschland sowie vielen weiteren Ländern war es Frauen in Russland schon seit Beginn des 19. Jahrhunderts erlaubt, Staatliche Kunstakademien zu besuchen. Und auch die schwedische Künstlerin und Wegbereiterin der abstrakten Kunst Hilma af Klimt studierte bereits ab 1882 an der Staatlichen Kunsthochschule (Kungliga Akademien för de fria konsterna) in Stockholm. Hier war es Frauen bereits ab 1857 erlaubt, eine künstlerische Ausbildung zu absolvieren.
Künstlerinnen brauchten ein schweres Portemonnaie
Alternativen zu staatlichen Institutionen boten sich Frauen mit den privaten Kunstakademien, die im 19. Jahrhundert wie Pilze aus dem Boden schossen und in Paris, Berlin und München in direkter Nähe zu den Staatlichen Kunstakademien angesiedelt waren. Für die Gründer und Lehrenden – meist staatlich ausgebildete (mittelmäßige) Künstler – wurden diese Schulen zu einer lukrativen Einkommensquelle. Die Klassen waren voll und bei Aufnahme zählte weniger das Können als vielmehr ein schweres Portemonnaie.
Besonders bekannt waren die Académie Julian, die im Jahr 1868 von dem Maler Rodolphe Julian eröffnet wurde und die Académie Colarossi im Quatier Latin, gegründet vom italienischen Bildhauer Filippo Colarossi, in Paris. Beide Akademien genossen großes Ansehen und galten neben der konservativen École des Beaux-Arts als progressiv und freigeistig. Bereits 1910 wurde Frances Hodgkins in der Académie Colarossi zur Lehrenden benannt und unterrichtete Aquarellmalerei.
Qualität spielte eine untergeordnete Rolle
Um 1900 zogen diese überteuerten Privatakademien Künstlerinnen aus der ganzen Welt in die aufregende Kunstmetropole und ermöglichten Studentinnen den Unterricht in gemischten Klassen, also ein gemeinsames Studium mit Männern. Obgleich die Künstlerinnen hier mit großen Widerständen und Diskriminierungen zu kämpfen hatten, der Unterricht für sie bis zu fünfmal so teuer war wie für Männer und auch die Qualität des Unterrichts eine untergeordnete Rolle spielte, lockte diese Ausbildung hunderte Künstlerinnen aus verschiedenen Ländern an: neben Laura Muntz Lyall, Eileen Gray, Meta Vaux Warrick Fuller, Clara Rilke-Westhoff auch die Malerin Paula Modersohn-Becker.
Modersohn-Becker kam durch eine Erbschaft zu ein wenig Geld und reiste nach ihrem ersten Besuch in Paris 1900 noch drei weitere Mal in die Stadt, von der sie schon als junge Frau träumte. Sie schätzte die neue Ausbildungsmöglichkeit und die damit verbundenen neuen Perspektiven auf ihre Kunst. Diese Erfahrung festigte ihre tiefe Überzeugung und den innigen Wunsch, Künstlerin zu werden, was sie in ihrem Tagebuch festhielt: „Ich liebe die Kunst, ich diene ihr auf Knien. Sie muss die Meine werden.“
Insbesondere der Aktzeichenunterricht, der an den Privatakademien in Deutschland verboten oder nur mit der Einverständniserklärung der Eltern erlaubt war, war ein großer Zugewinn für die Künstlerinnen. In der Künstlerkolonie Worpswede lernte Modersohn-Becker bei Fritz Mackensen, den sie mehr aushielt als schätzte. Er bestand auf die Landschaftsdarstellung als Fokus und gab Modersohn-Becker nur wenig künstlerischen Freiraum. Zwar saßen ihr immer wieder Menschen für wenig Geld aus dem Armenhaus in Worpswede Modell, doch die Auseinandersetzung mit dem menschlichen Körper und seiner Darstellung sowie dem Bemühen um einen eigenen künstlerischen Weg konnte sie vor allem in Paris vertiefen und erweitern.
Ich liebe die Kunst, ich diene ihr auf Knien. Sie muss die Meine werden.
Bei ihrem letzten Aufenthalt in Paris entstanden Selbstbildnisse, die als die ersten Akt-Selbstdarstellungen der Kunstgeschichte gelten und die zu ihrer Zeit gegen jede Konvention verstießen. Erst zwei Jahrzehnte nach ihrem frühen Tod 1907 wurden diese Arbeiten öffentlich gezeigt.
Es gibt noch einiges zu tun
Mit der Öffnung der privaten und schließlich auch Staatlichen Kunstakademien für Frauen war eine professionelle Ausbildung zur Künstlerin möglich geworden, dennoch blieben die Chancen, als Künstlerin zu leben, sehr gering. Auch das Vergessen der künstlerischen Leistung von Frauen nach ihrem Tod zog sich als Motiv weiter fort, selbst wenn der Zugang zu den Bildungseinrichtungen zu größerer gesellschaftlicher Akzeptanz von Künstlerinnen führte. Noch heute warten zahlreiche nicht-weiße und nicht-cis-männliche künstlerische Positionen darauf, als aktiv Mitwirkende der westliche(n) Kunstgeschichte(n) anerkannt zu werden. Es ist nun an uns, diese neu zu denken und auch über die immer noch fest verankerten patriarchalen und kolonialen Strukturen der Kunst hinauszublicken.